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(3) Unter dem Begriff „Überflussgesellschaft“ verstehe ich:
Einen schleichenden kulturellen Niedergang der westlichen, demokratisch verfassten Gesellschaften, denn
(a) diese Gesellschaften sind durch und durch dekadent (erlebnishedonistisch-emotionalisiert: geistig-seelisch verkümmert und reflexionsarm apolitisch) und werden deshalb nach und nach unregierbar;
(b) an die Macht (durch Wahl) in diesen Gesellschaften gelang(t)en immer mehr halbgebildete, wirklichkeitsverlustige, karrieresüchtige, am Gesamtwohl ihrer Gesellschaft eher desinteressierte Karrieristen, narzisstische Staatsschauspieler, Selbstbestandslose, Tugend-Korrupte und Gesinnungsarrogante
(c) diese Gesellschaften zeigen eine wachsende Kluft zwischen Reich und Arm; und: eine Erosion der Mittelschicht; deren Mitglieder verarmen; kurzum: Die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter und weiter auseinander
(d) so wie der amerikanische Traum sich als Illusion erwies - die er wohl schon immer war - erwies, so sinkt in Deutschland das Wohlstands-Niveau für immer mehr Menschen: Die deutsche Gesellschaft wird sich wohl aufreiben - gewiss ein langer Prozess - zwischen wachsenden Staatsschulden, einer weiter zerfallenden Infrastruktur, sinkendem Wohlstand, moralischer und politmessianischer Hybris, gesinnungs- und ideologisch-fundierten Wirklichkeitsverlusten und zunehmender Radikalisierung großer Teile der Bevölkerung aufgrund der politischen Inkompetenz einer sich selbst entmächtigenden Parteien-Oligarchie
(d) in allen diesen westlichen Gesellschaften haben wir es zu tun mit Bevölkerungen, die
(i) massiven Vertrauensverlusten, dann, wie gesagt,
(ii) zukünftigen Wohlstandseinbußen/Verarmung ausgesetzt sein werden; und dies unter den folgenden, jahrzehntelang von den Menschen förmlich unabweisbar verinnerlichten Bedingungen:
(iii) progressive Anomisierung (soll auch heißen: Haltlosigkeit, geistig-seelische Verarmung, Orientierungslosigkeit, sinkende psychische Widerstandsfähigkeit und massive Realitätsverluste; etwa aufgrund permanenter Infantilisierung und Emotionalisierung)
(iv) zumal erlebniserpicht, ichsüchtig, unzureichend gebildet, marktknechtschaftlich allgesteuert, belämmerungshedonistisch und immer deutlicher reflexionsarm geworden sind;
(v) was auch heißt, dass sich
(vi) der Fluch der Mediokrität - und mit ihm die Verführbarkeit der reiz-, effekt-, show- und parolen-hörigen Menschen - immer weiter -zum Schaden einer demokratischen Verfassung und ihrer Rechtsstaatlichkeit - ausgebreitet hat: Die Menschen wurden leerformel-, phrasen- und „guru“-hörig, folgen Verschwörungstheorien und politisch impotenten „Bauernfängern“:
die Bevölkerungen werden psychoethisch geschwächt, ideologisch primitivisiert und politisch unmündig;
(vii) sie unterliegen diesen Fragwürdigkeiten nicht weniger als ihre politischen Repräsentanten, die, narzisstsiche Karrieristen, eben weil "vermittelmäßigt", zu immer größerer Verantwortungslosigkeit, Realitätsblindheit, Korruption und macht(wahl)strategischer Leerformelausbeutung neigen.
Auf die spezifisch deutschen Verhältnisse werde ich unten eingehen.
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(4) Unter dem Begriff „Überflussgesellschaft“ verstehe ich weiter:
(a) Ein Mentalitätsgefüge, sich im Wesentlichen speisend aus (sozial, kulturell, politisch usw.) idealerweise allgegenwärtiger narzisstischer Selbsterhöhungs-, „cooler“ Selbstdarstellungs-und Selbstanpreisungs-Sucht, berechnetem Unernst, reklameoptimistischer, trash-motorisch unterfütterter Daseinsleichtigkeit, medialkomödiantischem Leerformel-Pingpong qua Phrasenfechterei, popmusikalischem Erlösungs-Emotionalismus qua ekstatisch-stumpfsinnigem Selbstgenuss, smarter Anpreisungs-Trickserei, um die Leute als Kunden entfesselungsdebil zu beeindrucken, emotional zu fangen, um ihnen zu signalisieren, dass erwünscht zu existieren (glückstüchtig daseinserhöhend zu werden und zu bleiben) nichts anderes sei, als sich all das an (ichsuchtmarkanten) Produkten kaufen/leisten zu können, was allgemein als Grundlage von Diesseitserhöhungs- und Diesseitserlösungschancen gilt (etwa: Haben, Gelten, Lust, Erfolg, Freizeit: als Zeit scheinbar grenzenlos erlebnisschierer Selbstverwirklichung, ausgeglichener Work-Life-Balance usw.) … (gesellschaftlich überhaupt etwa) als Erfahrungsausblendung mittels Spannungs-, Ablenkungs-, Erregungs-, also überhaupt problemlos gelingendem, eudämonistisch/hedonistisch-emotionalem Erlösungs-Konsum (vom meditativen bis zum sexuellen, um nur diese beiden zu nennen; es gibt da viele Vollzugsformen) … Also ein Mentalitätsgefüge als Ergebnis sich progressiv erweiternder: belämmerungs- und entschämungseskapistischer Freizeit-Vollzüge (diese Phänomene sind geradezu wesenstypisch für eine Überflussgesellschaft), die ihre Funktions-Grundlagen, wie z. B. - die folgenden Begriffe laufen „ineinander“: sind nicht sauber zu trennen - Ablenkung, Emotionalisierung, Verführung, Entlastung von wie auch immer unangenehmen, belastenden oder gar bedrückenden realen Zusammenhängen, Verspaßung, Verdinglichung, Selbst-Entfesselungs-Verreizung, Berauschung, Ideologisierung usw. usw. die eben aus diesen Phänomenen leicht zu „extrahieren“ sind … Phänomene, die sich dingfest machen/ablesen lassen am Ausagieren narzisstisch-smarter „Existenz-Aufhellungen“, auch mittels Trickserei, Inszenierung, Schauspielerei, Show, deren genüsslich-cool-linkische Umtriebe man aus allen Bereichen der Gesellschaft, Wirtschaft und Politik beobachten kann. Noch einmal: Die deutsche Gesellschaft - wie die anderer westlicher Nationen auch (ich denke vor allem an die USA) - ist eine Gesellschaft der „Enthemmung/Entfesselung/ Entschämung“ - und folglich der Dekadenz, der existenziellen Inkompetenz, der geistigen Verarmung und Selbstaufgabe, der intellektuellen Mittelmäßigkeit, der haltlosen (zerbröselnden) Innenwelten, des asozialen Subjektivismus usw. usw.
Indes vergesse man eines nie: Die Menschen müssen fertig werden mit einem - wenn sie ihn auch panisch verdrängen - sie unterschwellig permanent „angehenden“ Pan-Nihilismus, der in einer Überflussgesellschaft - kapitalistisch-technisch-naturwissenschaftlich geprägt - aufkommen muss, denn eine solche Gesellschaft ist, um ihres „Funktionierens“ willen, darauf angewiesen, alle metaphysischen, asketischen, hochkulturellen, geistigen, faktenradikalen und überhaupt erfahrungs- (statt nur: erlebnis-) trächtigen Antriebe der Menschen verkümmern zu lassen, denn: sie wirken alle drastisch antikonsumtiv.
(5) verstehe ich unter dem Begriff „Überflussgesellschaft“ weiter diese, teilweise schon genannten, Phänomene:
(i) Emotionalisierung (Bezug: Sport, Medien, Politik)
(ii) Sentimentalisierung (Bezug: öffentlich inszenierte Emotionswogen, etwa: Kollektivtrauer als öffentlich zur Schau gestellter Trauerkonsum)
(iii) Infantilisierung (Bezug: Zeitgeist, Politik, Schnäppchenjäger-Mentalität)
(iv) Narzisstische Inszenierung (Bezug: Promis, politische Figuren)
(v) Schaumschlägerei (Bezug: Reklame, Wirtschaft, Kulturindustrie)
(vi) Depersonalisierung (Bezug: Das marktfundamentale Heranziehen/Abrichten von Körpermonaden qua Bedürfnisträgern statt autonomer Personen)
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(vii) Mystifizierung durchschnittlicher Menschen (Bezug: Pop-, Film- und Sport-Stars), die "verhalbgottet" werden.
(viii) Das marktfundamentale Abrichten von Banalophilen = „Verflachungsbetörten“ (Bezug: Zerstreuungssüchtige, realitätsflüchtige = eskapistische Lustpfleger, fun morality-Anbeter, wörtlich: Liebhaber jeglicher Art von Verflachschichtigung, die sozusagen ein „Kulturelles Lumpenproletariat“ ausmachen)
(xi) Standardisierung (des Geschmacks, des Denkens, Wollens, Fühlens, Hoffens, Sehnens usw.)
(x) Marktknechtschaft (die Knechte sehnen sich danach, Knechte zu sein: Sie sehnen sich nach einer als Freiheit empfundenen „friedlichen Knechtschaft“, so schon Alexis de Tocqueville: „Une servitude paisible“)
(xi) Permanentes Absenken der Selbstansprüche: Man will sein Leben erleben, aber nicht mehr führen; und also auch nicht mehr erfahren, denn nur ein erfahrenes = reflektiertes, durchdachtes und in seiner unvermeidbaren Widersprüchlichkeit und prekären Dauerverfasstheit verstandenes und als solches hingenommenes Leben lässt sich auch führen (vielleicht; denn ein durchschautes Leben kann ja durchaus auch bedrücken bis zur seelischen Entkräftung und definitiven psychoethisch-geistigenVerkümmerung)
(6) Unter dem Begriff „Überflussgesellschaft“ verstehe ich endlich: Eine Gesellschaft eines schleichenden Rechtstaatszerfalls und einer immer offenkundiger werden Gefährdung der Demokratie
Dazu 3 Zitate
Jens Gnisa, Das Ende der Gerechtigkeit, Freiburg im Breisgau 2017, S. 13:
„Mangelnde innere Sicherheit, Rechtsverstöße durch die Politik und populistische Ausweichmanöver, wenn es um die Verantwortung für die Bürger dieses Landes geht: Für mich besteht kein Zweifel, dass ein zentraler Eckpfeiler unserer Gesellschaft in Gefahr ist. der Rechtsstaat.“ Hervorhebungen von mir, Sa.
Ebenda, S 21: „Unser Staat hat aufgehört, sich durchsetzen zu wollen. Das ist eine fatale Entwicklung. Denn Recht, das nicht durchgesetzt wird, findet keine Beachtung. Die Menschen respektieren es nicht mehr. Das widerspricht nicht nur dem Rechtsstaat an sich, sondern auch der Demokratie …“
Ralph Knispel, Rechtsstaat am Ende, Berlin 2021, S. 21: „Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass unser Rechtsstaat in Teilen nicht mehr funktionsfähig ist.“ In der Tat.
Ich bin nicht in der Lage zu beurteilen, wie es in anderen europäischen Ländern um die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats bestellt ist, glaube aber gewisse Vorgänge und Ereignisse in den USA - ich denke etwa an den Sturm auf das Kapitol am 6. Jan. 2021 - auch mit einer Art Dysfunktion oder Ablehnung des dortigen Rechtssystems* bei einem Teil der Amerikaner in Verbindung bringen zu dürfen, denn offenkundig gelingt es nicht mehr, alle Amerikaner von einem Angriff auf ihre sozusagen geheiligten Traditionen abzuhalten.
Anm. *: United States Supreme Court: Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten; dieser ist das oberste rechtsprechende Staatsorgan der USA. Ob die Immunität von Donald Trump von diesem Gericht inzwischen aufgehoben wurde - Trump gilt immerhin als mitverantwortlich für jenen „Sturm“ - entzieht sich meiner Kenntnis. Neben jenem obersten Bundesgericht existieren auf der Ebene der Bundesstaaten Oberste Gerichtshöfe der Bundesstaaten
------------------------Ende der Anm. *
(D) Der kulturelle Niedergang der BRD*/Der Verfall der deutschen Sprache
Noch einmal: Jens Gnisa: „Für mich besteht kein Zweifel, dass ein zentraler Eckpfeiler unserer Gesellschaft in Gefahr ist. der Rechtsstaat.“ Dann: „Unser Staat hat aufgehört, sich
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durchsetzen zu wollen.“
Ralph Knispel, s. obiges Zitat
Anm. *: Ob dieser die gegenwärtige politische Funktionselite, die sich sehenden Auges selbst abschafft (indem sie selbst das Aufkommen radikaler Parteien begünstigt, diese geradezu politdilettantisch groß macht, indem sie es versäumt, eine rational durchdachte, sachgerechte und nachvollziehbar-verständlich erklärte Politik zu machen, um sich so das Vertrauen der Wählerschaft zu erhalten, interessiert, kann ich nicht sagen. Fakt ist: Das, was die beiden oben zitierten Juristen (Gnisa und Knispel) anführen, erscheint mir richtig - ohne dass ich - ich wiederhole mich - nachvollziehen könnte, warum die politisch Verantwortlichen bisher nicht versuchen, sich nicht mehr gleichsam absichtlich-offenkundig selbst zu schädigen (ihre Macht zu gefährden)
-------------------------Ende der Anm. *
Indes lässt sich - einmal abgesehen von der Irrationalitätsanfälligkeit der massiv wirklichkeitsverlustigen politischen (und wirtschaftlichen) Funktionselite - zur Fragwürdigkeit der heutigen menschlichen Existenz generell sagen: sie ist sozusagen ausweglos(!?) geworden, letztlich nicht mehr meisterbar (auch nicht geistig) - was für eine politische Funktionselite von fundamentaler Bedeutung ist, denn sie ist selbst Zeitgeistopfer und Zeitgeistproduzent zugleich, soll in letzter Konsequenz auch heißen: Ihr eigener Spielball … von ihr selbst unbemerkt; sie ist zeitgeisthörig, weil sie es sein muss: Ein beträchtlicher Teil der (jüngeren) Wählerschaft ist argumentativ-rational-faktenorientiert (also sachlich-analytisch-reflexiv) kaum noch zu erreichen: Es fehlt die sprachliche Kompetenz (auch: die Allgemeinbildung), es fehlt die innere: seelische Einheitlichkeit und Beständigkeit, es fehlt die Fähigkeit, sich überhaupt noch auf einen in sich vielschichtigen Gesamtzusammenhang zu konzentrieren … ist doch die gegenwärtige Existenz in ihrem Kern
(a) rational überhöht und entsprechend psychoethisch bedrückend komplex
(b) überhaupt - wie letztlich in jeder geschichtlichen Epoche – dauerprekär: Das menschliche Dasein (individuell wie kollektiv ist immer ein Vabanquespiel, das mannigfacher Entlastungsfiktionen und Lebenslügen bedarf; so heute der Lebenslüge, dass ausschließlich Wohlstand als Quelle erlebnisintensiven Daseinsvollzuges als Stifter von Daseinssinn fungieren könne); und - weiter - (c) gilt für die heutige Gesellschaft als ganze wie für die sie ausmachenden Individuen, dass stabile Halte, nicht-hedonistische Zwecke und einen übergeordneten Lebens-Sinn es gar nicht mehr geben kann (die Naturwissenschaften haben einen solchen letztlich als Fiktion entlarvt), es sei denn als verdrängungs-, illusions- und/oder (noch traditionell) metaphysisch fundierte; weil
(d) menschliches Dasein immer, es ist dies per se, ausnahmslos: behelfsträumerisch-selbstbetrüglich-affektstieres Phantasieren und Agieren ins Leere ist: ins stumme X der Deutungslosig- und Sinnlosigkeit: Die Welt ist heute als ein nur materieller Gesamtzusammenhang experimentell-mathematisch „entborgen“ /enträtselt, sodass die Gesellschaft (ebenso das Individuum) den sie heimlich wie offenkundig heimsuchenden Nihilismus der heutigen menschlichen Existenz nicht mehr zu bewältigen vermag – es sei denn: gefühls- und affektsimpel ergriffen ekstatisiert, um jenen subjektiv lebenslügnerisch-erlebnistrivial vergessen zu machen, weil
(e) eine hedonistisch-narzisstisch-dauererregte/ja: hysterisierte Gesellschaft von auf marktproduzierte Emotionszufuhr und sinnindustriell gelingende Emotionenbewirtschaftung angewiesenen körperzentrierten Selbstverbrauchern (also: eine Überflussgesellschaft als Selbstverdinglichungs- und Emotionsentlastungsdiktatur) eine psychoethische Desorientierung und Zerrissenheit nach sich ziehen muss, die von den Individuen nicht mehr zu meistern ist; es gibt einfach keine - da gilt es realistisch zu sein: es kann sie nicht mehr geben - Gesellschaft, die sich auf geistige und also entsprechend ethisch-asketische, würde-
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und vernunft-zentrische Grundlagen beziehen könnte; eine solche Gesellschaft (und da auf deutscher Seite - warum auch immer: etwa aus Gründen einer ideologisch-politmessianischen Gesinnung, ethischer Wirrnis, eines fehlenden Realitätssinnes - selbstverschuldet, zuweilen geradezu gewollt, könnte ich auch sagen, es handle sich hier um einen schleichenden kulturellen Suizid (Selbstmord) eines in großen Teilen dekadenten, geistig seiner selbst verlustigen, naiv-simplizistisch-spaßeffektgierigen Volkes, das eigentlich, schon immer mit sich selbst hadernd, in autodestruktive Extremismen verfiel; diesbezüglich nenne ich
(i) den geistigen Verfall, ablesbar daran, dass die Deutschen (automasochistisch unterwürfig und „coolgeil“) ihre Sprache selbstverachtungslüstern(!?) verderben (lassen), indem sie - das gilt auch mehr und mehr für „konjunktivunkundige“ sog. Intellektuelle, vor allem aber für die große Masse derer, die viel lieber Englisch sprächen, freilich weder diese noch die deutsche Sprache beherrschen - obwohl die Muttersprache zweifellos identitätstiftend wirkt (ob auch deutschideologisch-intellektuell soll, das sei dahingestellt; eher nicht)
(ii) den ethischen Verfall: Die deutsche Gesellschaft - vor allem oben - ergeht sich gleichsam polittugendmonoman in sittlichen Forderungen (meist die ganze Welt: die Menschheit betreffend; so etwa hörte ich eine politisch dilettierende Dame raunen von der Würde der Menschheit, obwohl offenkundig ist, dass die gerade für ihre Würde nichts tun kann, weil sie kein bewusst selbststeuerungs-/selbstübermächtigungsfähiges Subjekt ist: Seine Würde - falls es denn etwas auf sich hat mit dieser kantischen Kategorie - kann man sich nur selbst schaffen, schenken und bewahren, indem man als empirisch (sinnlich) identifizierbares einzelnes moralisches Subjekt, als Person, Macht über sich selbst als Kreatur/Organismus ausübt. Zum Thema „Würde“ später
(iii) die Ausblendung des Realitätssinnes auf politischer (Beispiel: Afghanistan, wo man 20 Jahre Krieg führte, aber offenbar nicht wusste, mit welchem Ziel; dann: gegenüber Russland) und wirtschaftlicher Seite (Beispiel China): Kai Strittmatter, Die Neuerfindung der Diktatur, München 2018, Vorrede, S. 7: China - „Eine Nation, der die Selbstdemontage des Westens wie ein Geschenk des Himmels in den Schoß fiel.“ Hervorhebung von mir, Sa.; vgl. dazu S. 302; weiter S. 9: „Ein perfekter Sturm zieht heran, für Europa, für die Demokratien.“ S. 14: Xi Jinpings Botschaft: „Mach Platz Westen! Macht Platz, Kapitalismus und Demokratie! Hier kommt … die chinesische Lösung!“ Und weiter: „Ein Gottesgeschenk ist auch ein Europa, das sich seit Jahren in Nabelschau und Familientherapie verliert und darüber seine schwindende Bedeutung in der Welt nicht einmal mehr wahrnimmt.“ Vgl. zu China auch: Matthias Naß, Drachentanz, München 2021, S. 183 - 214. Was Deutschland angeht, siehe v. a. die Seiten 202 - 214. Sei’s.
Also: Die drei Beispiele des deutschen politischen und wirtschaftlichen Umgangs mit China, Russland und Afghanistan habe ich vor allem deswegen erwähnt, weil sie - für mich - gute Beispiele sind, für den nicht nur
(α) kulturellen
(β) ethischen und
(γ) im engeren Sinne intellektuell-geistigen,
sondern überhaupt den in allen relevanten gesellschaftlichen Bereichen (im Gesundheits-, im Bildungs- und Verkehrswesen, im politischen, wirtschaftlichen, militärischen, überhaupt dem infrastrukturellen Bereich usw. usw.)
(δ) beobachtbaren mentalen Niedergang Deutschlands, wenn auch nicht als bereits nicht mehr rückgängig zu machenden zu belegen, so doch als einen zu kennzeichnen, der zu einem solchen unwiderruflich werden könnte, wenn die deutschen Funktionseliten und überhaupt die deutsche Gesellschaft als die naive Gesellschaft einer selbstanspruchslos-schlichthedonistisch-freizeitpassiv ausgerichteten Erlebnis-Religion so weiter machen, wie sie es seit Jahrzehnten schon tun:
(ε) Interessengefährdungen zu schaffen durch Machtverweigerung, Tugendillusionen, Tatsachenausblendungen, Faktenignoranz, Narzissmus, Halbgebildeten-Indolenz und also
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wachsender psychoethischer Verkümmerung
(ζ) Niedergangs-Phänomene, die inzwischen soweit gediehen sind, dass das Land im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung noch nicht einmal in der Lage wäre, sich selbst zu verteidigen. Kurzum:
(η) Die Deutschen sind - sind es immer mehr - schwerstdekadent, wirklichkeitsflüchtig und, wie es aussieht, sich selbst gleichgültig: also kulturell im umfassenden Sinne so sehr heruntergekommen, dass sie sich, belämmerungssensibilisiert danach sehnen, von Daseinsgegebenheiten, -problemen und -widersprüchen unbehelligt, ihrer ekstatisch-konsumtiv geprägten Verbraucherinnerlichkeit ungestört frönen zu dürfen.
Überhaupt kann man sagen, dass die gelebte Moralität der deutschen Gesellschaft in umgekehrten Verhältnis zur propagierten, ausgelobten, angeblich bestehenden, politisch hochgehaltenen und angemahnten steht, sodass man sagen kann: Überflussgesellschaften/ Konsumdiktaturen sind immer auch Gesellschaften, die politisch die höchsten Werte ausloben, propagieren und angeblich auch leben (Freiheit, Vernunft, Gleichheit, Würde, Toleranz usw.), faktisch aber eine Bürgerschaft der geistig-kulturell Selbstanspruchslosen in jeder, gerade auch in kultureller Hinsicht, aufweisen: Gesellschaften, die Macht, das Überragen anderer, Erfolge aller Art (wirtschaftliche und politische v. a.), Ruhm, Ansehen, Neid erregenden Konsum, Luxusgüter, hedonistische Erlebnisdichten, Bewunderung, Verehrung, zeitgeistkonforme Vorbildfunktionen, Statushöhe usw. usw. zu erlangen versuchen: In meinen Augen sind das - es sei noch einmal betont – aber auch individuell dringend benötigte „Entlastungslebenswerte“, die es als solche erlauben, sich die - es ist einzuräumen - bitteren Tatsachen einer/der menschlichen Existenz zu verhehlen, ein Verhalten, das zu tadeln ich nicht bereit bin, da ich weiß um die Schwäche, Hilflosig - und Orientierungslosigkeit, Sinnsucht, rastlose Suche nach Entlastungs-Illusionen, Trost- und Verdrängungs-Zusammenhängen, Lebenslügen usw. der faktisch halt- und selbstanspruchslosen Menschen. Und was sind das für bittere Tatsachen? Nun - ich wiederhole es -:
(א) „Formal“ und also unvermeidbar Zeit, Altern, Verfall und Tod geweiht zu sein: also definitivem Nichtsein (es gibt nichts, was „danach“ käme) ausgeliefert zu sein; weiter:
(ב) vollständig determiniert zu sein: Ein geist- und seelenloses Materie-Gebilde ohne freien Willen (d. h. selbstbestimmungsunfähig zu sein)
(ג) ausgesetzt zu sein einem dauerprekären Dasein, das sich physikalisch-chemischen und evolutionsbiologischen Zufällen verdankt (vgl. dazu oben (A)), solchen auch permanent: lebenslang, ausgesetzt ist; ein Dasein zumal
(ד) das, ich sagte es schon, vollkommen sinnlos ist, heutzutage als
(ה) ausgesetzt einer entzauberten: aufgeklärten: gottverlassenen, einer einen zum Ding herabwürdigenden schmucklos-primitiven Artefaktenwelt, die als Konsumdiktaturgefüge scheinbar alles zu bieten hat, nur keinen Halt, kein Ziel, keine Geborgenheit, keine Mitte, kein Maß, keinen nichtquantifizierbaren Wert, keinen Traum, der Erfüllung verspräche, keine Sehnsucht, die sich nicht in selbst verlöre, keine Idee, für die es sich „dranzugeben“ lohnte … alles Gegebenheiten, die die Menschen moralisch verzwergen lassen, zu kleinlich gesinnten Verbrauchern machen, ihnen alle Seelengröße, alle Heiterkeit, allen Seelenfrieden, alles nichtmaterielle/nichtkonsumtive Glück schnell wieder verleiden, falls sie es denn überhaupt anzustreben in der Lage sein sollten. Kurzum: Der einer Überflussgesellschaft notwendig innewohnende Nihilismus, entschuldigt (macht zumindest verständlich) die zuweilen gar selbstschädigungsträchtig-verwahrlosungs-existenziellen Eskapaden derer, die unter ihrer Fuchtel ihr Dasein fristen müssen: Ob nun als obdachloser Straßenschatten, Arbeiter, Handwerker, Techniker, Naturwissenschaftler, Partei-Grande, Millionär, Pop-, Film- oder Sport-Star usw. usw.
Wenn man den in der Tat massiven Verfall der deutschen Sprache verstehen will, gilt es zunächst einmal sich an das zu erinnern, was oben unter (D) angesprochen wurde: „Im
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Hinterkopf zu behalten“ dass wir in einer Überflussgesellschaft existieren, die sich kulturell, ethisch, staatlich-rechtlich, politisch und vielleicht auch wirtschaftlich (Globalisierung, zunehmende Erpressbarkeit, Verlust, jedweder Autarkie, Gefährdung durch Terrorismus, Diktaturen usw. usw.) selbst ruinieren zu wollen/zu müssen scheint.
Fakt ist, noch einmal sei es gesagt: Die deutsche Gesellschaft der Gegenwart ist eine westliche, demokratisch-rechtsstaatlich verfasste Überflussgesellschaft, die
(*) ausnahmslos wohllebenszentrisch ausgerichtet ist, soll heißen,
(*) dass die sie ausmachenden Individuen unter scheinbar rationalen und als fortschrittlich gepriesenen Marktbedingungen eine Existenz zu vollziehen haben, die sie, diese Individuen, bis in ihre Persönlichkeitskerne prägt, steuert und psychoethisch ausrichtet, soll heißen,
(*) diesen Individuen Lebensumstände vorgibt, nahelegt und tatsächlich aufzwingt, gegen die sie sich nicht wehren können (noch auch wollen würden, begriffen sie auch die Fragwürdigkeiten dieser Lebensumstände als faktische Marktknechtschaftsschicksal), Lebensumstände, die die Individuen dazu bringen;
(*) sich begeistert und fraglos freiwillig abzurichten* und
Anm.* Hier ein Beispiel: POP-Musik: Die allseits dauerkonsumierte POP-Musik als narzisstischer Verwoodstockungs-Kult - der Ausdruck bezieht sich auf das legendäre Woodstock-Festival 1968 in den USA: Eine Art Pop-Musik-, Sex- und Selbstbelämmerungs-Orgie) - drogen-hedonistisch umnachteter Innenwelten gewährt eine Berauschung, die unerlässlich ist für das „Funktionieren des Kapitalismus“: Eskapismus: Realitätsflucht als psychophysische Enthemmung, die sich auswirkt als ekstatisierte
(1) Star-Vergottung (obwohl der Star ein ganz gewöhnlicher Konsum-Spießer ist, der sich einer trivialnarzisstischen trash-Motorik hingibt, die, zusammen mit der aggressiv-bombastisch-aufreizenden Musik) wiederum
(2) als eine mystisch aufpeitschende Emotionalisierung: als Selbstaufgabe-Magie sich auswirkt; jedenfalls gewährt die Pop-Musik
(3) eine kollektiv-orgiastische Ergriffenheit
(4) eine rauschhafte Verantwortungslosigkeit
(5) eine trivialnarzisstisch individuell irrational deklassierende Entselbstungsdrangsal: Diese ist die heimliche Gier des kapitalistisch kommandierten Konsumenten: Erlösung von sich selbst, der Gesellschaft, der Welt überhaupt: Eine Art Sehnsucht nach emotional entfesselnder und Fakten zu ignorieren erlaubender Entlastungs-Entpflichtung
(6) Kurzum: Die POP-Musik gewährt eine Art dionysische Verlassenheit. In der Tat: Einen Rausch erlebt man nur einsam: für Augenblicke nur körpergefangen-lusttrunken auf sich selbst zurückgeworfen; Beispiel: Orgasmus
(7) die Pop-Musik ist eine all-ergiebige Quelle leiblich entfesselnder Phantasien (die radikal antierotisch wirken, da ihre Hauptquelle die Geistlosigkeit bloßer Entfesselungsgelüste ist: Eros ist auch und vor allem „geistfundiert“)
(8) Allgemein gesprochen: Die Pop-Musik ist eine Selbstausblendungs-, eskapistisch-innenweltrivialisierende Verführungs-, guruprimitiv provozierende Selbst-Mystifizierungs-Strategie von „Stars“; und die sind sozusagen (ohne es selbst zu wissen) Systembeauftragte, eine vollendete Tranceweltknechtschaft mit zu etablieren und zugleich als diese Systembeauftragte zugleich Vollzugsagenten einer perfekten Verlotterungs-, Emotionalisierungs-, Depersonalisierungs- und Stupidisierungs-Maschinerie)
---------------------------Ende der Anm.*
Weiter:
(1) Im Erwerb von Wohlstand d e n Daseinsvollzug zu erblicken, der ganz allein noch als beglückend und - weit darüber hinaus - als sinnträchtig anzusehen sei, ist gängiger Daseinsvollzug; wenn aber
(2) Wohlstand - ganz allgemein gesprochen: Haben, Gelten und Genuss - den Individuen
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vorgegebene Daseinsziele sind - Daseinsziele, denen sich die Menschen in der Regel nicht entziehen werden und können - weil sie,
(3) täten sie es, dann ein Außenseiterdasein zu gewärtigen hätten,
das bei andern auch auf Verachtung träfe, das vor allem auch das Risiko der Einsamkeit bärge; zumal Daseinsziele sind, die den Individuen als Existenzsinn-Garantien gelten, besser: gelten müssen: sie müssen (und wollen es auch) sich als in der Regel konsumtiv orientierte Gesellschaftswesen verhalten. Was wiederum zu Folge hat, dass sie primär oder ausschließlich utilitaristisch (nutzenorientiert*) denken, fühlen und handeln - und zwar als
(a) Wirtschafts- und Sozial-Monaden
(b) Umsatzgrößen
(c) Zeitgeisthörige (v. a. medial gesteuerte)
(d) Marktknechtschaftsgefangene usw.
Anm.* Und das heißt auch, dass die Menschen verlernen, dass das Nutzlose eine Quelle nichtkonsumtiven Glücks sein kann, das gegenüber dem gängig erstrebten konsumtiven Glück, das man zumal
(1) vor anderen zur Schau stellen will, um sich bei diesen
(2) Anerkennung zu verschaffen; dann aber auch nicht selten,
(3) um bei diesen anderen Neid zu erregen
(4) oder sie zu blenden, da es soziale Überlegenheit anzeigt (in Form von Statussymbolen), also nicht mehr wissen, dass nichtkonsumtives Glück als zweck- und halt-stabiler, also: tiefer, dauernder, befriedigender und v. a., da gesellschaftlich-sozial „distanzierend“, als einsichtsträchtiger und folglich subjektiv bereichernder erfahren werden kann.
Beispiel: Ich schreibe Gedichte. Das ist, gängig kapitalistisch betrachtet, völlig nutzlos, weil es „nichts bringt“: weder Geld, noch Anerkennung, noch Ruhm, noch Erlebnis-Lust, schon gar nicht „eskapistische Faktenverweigerungschancen“, noch Macht - und schon gar nicht dieses belämmerungsselige Vergessen seiner selbst und der Welt mittels Emotionsnarkosen, wie sie die Pop-Musik, die Reklame, die Film- und Sinnphrasen-Industrie via Medien bieten; und vor allem auch nicht den Trost, den man - reflexionsarm, naiv und wertmonoman - aus Polittugend-Leerformeln saugen mag, um sich diese Welt als versehentlich verirrte schön zu plappern, anstatt sie als dauerprekär am kulturellen Untergang entlang schlitternde zu begreifen. Also: Ich schreibe Gedichte und versuche mit deren Hilfe dieser mich dem realen Kern unserer heutigen Existenz zu nähern: Einer Art von, das ist der Kern, Vertingeltangelungs-Nihilismus existenzieller Ausweglosigkeit. Und diesen diagnostizieren zu müssen, das ist zuweilen recht deprimierend, liegt indes einem geistigen Imperativ zugrunde, dem ich mich nicht entziehen kann (noch auch wollte, könnte ich es)
-----------------------Ende der Anm.*
(4) Dazu zwei Gedichte:
Unschulds-Schrei (40/2288)
Was dies mein Dasein sei,
was aus es mache ...
ich meine objektiv,
an sich.
Das wollt ich immer wissen,
abgesehn
von Träumen,
Lebenslügen und Fiktionen.
Nun ja:
Sichselbstversäumen
eines Rollen-Ich
in einem hochprekären
Kollektiv
von Scheinmoral,
Bedarfs- und Trieb-Geschehn,
Pleonexie beflissen,
dabei niemals frei.
Auf dass es sich
als Gegen-Sinn entfache:
Als kommandierter
Unschulds-Schrei.
Und dann :
Entseelungs-Nihilismus (40/2289)
Die Seelen sind doch ausgedünnt,
Reflex nur noch auf ein Phantom-Gemenge
aus Reiz, Effekt und Emotions-Absinth,
auf dass man selber sich bedränge
mit allen Formen von Erlebnis-Hypes,
sich einzufühlen Zeitgeistkult-Magie
als Züchter seines Waren-Ich-Selbst-Leibs,
im Banne selbstverzückter Anomie.
Indes das muss so sein, dass komme runter
dies tiefabsurde Wohlstands-Kartenhaus.
Im Kern doch nichts als bloßer Plunder:
Als Affen-Selbstverfehlungs-Saus und Braus.
(5) Nicht zu verhindern ist dann aber auch, dass die Menschen
geistig-seelisch verkümmern, indem sie - zumal in einer
(a) atheistischen Gesellschaft ohne metaphysische Halte leben müssen
(b) ohne selbstverständliche Grundwerte (in dieser Gesellschaft heute gilt alles - und folglich, wie Benn wusste, nichts: Es fehlen die sittlich-moralischen - ethischen - Selbstverständlichkeiten, die zu hinterfragen niemandem in den Sinn käme. Und nur solche geben Halt, Orientierung, Sinn - nicht aber geben Halt, Orientierung und Sinn die heute allseits gepflegten Dauerdiskussionen, zumal die sie anspruchsaggressiv führenden Individuen nicht selten gar nicht so recht zu wissen scheinen, worüber sie eigentlich reden, um was sie sich eigentlich zanken)
(c) ohne Einheit (die in der deutschen Gesellschaft klar zu unterscheidenden kulturellen Gegebenheiten, Strömungen und Verhältnisse sind nicht miteinander in Einklang zu bringen: tiefen/-kern-/substanz-kulturelle: geistige(!) Integration (zumal in eine Gesellschaft, die, wie die deutsche, nicht hochkulturell-geistig, sondern tugendhypertroph mammonistisch-konsumtiv-wirtschaftlich geprägt ist - und das eben bis in die seelischen Nischen, Zweideutigkeiten und Abgründe) ist eine Schimäre, wofür niemand etwas kann: man ist der eigenen Kultur und Sprache unlösbar bis in sein Innerstes verwachsen; ihr sozusagen hilflos ausgeliefert), was man hätte, ein wenig weltläufig gebildet, wissen können, ja: müssen.
(d) bei sich schleichend auflösender demokratischer und rechtlicher Stabilität sich einer politischen Funktionselite konfrontiert sehen, der selbstverpflichtende Sachlichkeit, Verantwortungsbereitschaft und Durchsetzungsfähigkeit nicht gelingen kann, weil ihre Mitglieder “Kinder sind dieser Zeit und Gesellschaft“: sich selbst, den Medien und der Irrationalität, der Macht und dem Interessen-Druck von gesellschaftlichen Akteuren und Gruppen ausgesetzt und infolgedessen nicht selten bloße Staats-Schauspieler und Leerformeljongleure sind; die Menschen sind also –
weiter -:
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(e) ohne rechtes Vertrauen in ihre politische Funktions-Elite
(f) zumal ohne Unterbrechung ausgeliefert - ich wiederhole - einer sie, die Menschen - physisch wie psychisch, intellektuell wie geistig - kommandierenden, vereinnahmenden, lockenden, verführenden, betrügenden, ruchlos faszinierenden, sich unterschwellig als Grundlage aller diesseitigen summa bona (höchsten Güter) anpreisenden, ideologisch-bildlich-phrasengewaltig überwältigenden, listig-kompetent von sich selbst ablenkenden, trommelfeuerähnlich in Beschlag nehmenden, faktisch diktatorischen Superstruktur aus Kapitalismus, Naturwissenschaften und Technik, der sich zu entziehen und derer sich zu entledigen den allermeisten Menschen nicht gelingen kann, zumal sie in der Tat auch Lebensvollzüge ermöglicht (und nur sie), die sozusagen als immer wiederkehrende „Erlebnis-Orgiastik“ von allen Fragwürdigkeiten der menschlichen Existenz belämmerungssublim abzulenken geeignet sind, also erfolgreich entlasten von Einsichten wie
(i) dass Leben Zeit, Verfall und Tod meint
(ii) dass alles Leben dauerprekär und
(iii) objektiv völlig sinnlos
(iv) subjektiv nichts weiter ist als Bedürftigkeit, Triebdrangsal, Ausgesetztsein (sich, den Artgenossen, den geschichtlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten usw. usw.), Angewiesensein auf Fiktionen (Entlastungs-Illusionen), Lebenslügen, Verdrängungsarbeit usw. usw. ist … freilich
(v) auch nichts anderes sein kann, es also folglich klug ist/sei, all das, was angeführt wurde, zu vollziehen: sich den lust-, macht-, vergessens-, traum-, rausch-, (Friedrich Nietzsche: Leben sei Traum und Rausch), erlösungs-, massenfaszinations-, magie- und leibsucht-trächtigen Entselbstungs- und Entweltlichungs-Gelegenheiten widerstandslos zu überlassen; und
(vi) und der Kapitalismus heute bietet nicht wenige von diesen Gelegenheiten; das vermag er, zumal er im Kern ein zwar ständig durch sich selbst gefährdetes System ist, aber doch letztlich auch die grandiose Selbstinthronisierung des menschlichen Ratio-Tieres bewerkstelligt hat … Indes er, der Kapitalismus, wohl nicht in den Sozialismus übergehen wird (wie, wenn ich mich recht erinnere, es Joseph. A. Schumpeter glaubte), sondern eher sich selbst und mit sich die Welt in den Abgrund reißen wird, was mich zu folgendem - zynisch-verzweifeltem - Ratschlag in Form eines Gedichtes veranlasst:
Zynische Großgesinntheit (40/2290)
So greift denn zu, ihr Selbstkultwesen,
verschludert euch bedenkenlos.
Ist doch an dieser Welt so gut wie gar nichts groß:
Sie wird euch ewig Illusionen fräsen.
Fakt ist, ihr tragt an euch nicht Schuld:
seid ihr doch hilflos selbst euch ausgesetzt
in diesem Nihilismus-Kult,
der euch in Gram-Exzesse hetzt.
Indes wer will das ernsthaft wissen?
Zumal wozu? So seid denn klug beflissen,
was immer geht, herauszuholen
aus dieser Daseinssucht, zumal dem Nichts befohlen.
(6) Dass also die Menschen aufgrund der heutigen Lebensbedingungen zuweilen (immer öfter) über das Normalmaß hinaus seelisch-geistig verarmen, kalkülkleinlich, seelenkalt,
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gewissensarm, chrematophil ( = „geldliebend“), nihilistisch, resignativ-narzisstisch und am Ende depersonalisiert (entwürdigt, verdinglicht, verlassenheitsverkümmert, kleinmütig-aggressiv, neurotisch, überempfindlich, orientierungs- und glücklos, launenhaft, usw. usw. werden können - und immer öfter auch werden: Die heutige Gesellschaft kann den Individuen keine Halte, keine Zwecke: keinen Sinn mehr bieten; s. o..
(7) Fazit: Das konsumtive Glück muss sich letztlich erschöpfen in
(a) System-Abhängigkeit (nur der Kapitalismus vermag dieses Glückstreben zu bedienen: man muss diesem System huldigen als Umsatzgröße)
(b) Sinkenden Befriedigungserträgen (je öfter und intensiver x, y, z ausgelebt wird, desto relativ weniger befriedigend wird/wirkt dann x, y, z)
(c) Behelfsverspaßung (man sucht Spaß, um z. B. innerer Leere zu entgehen, Einsamkeit, Niedergeschlagenheit, seelischen Belastungen usw. - oder weil man in ihm sich glaubt physisch vollenden zu können)
(d) Erlebnis-Monotonie (man erlebt: fühlt, reichert emotional an, gibt sich hin, genießt sich selbst als im Erleben äußerer Umstände Selbsterleben usw.; dann also nicht mehr etwas, z. B. eine Landschaft, andere Menschen, Dinge, Umstände usw., sondern das Erleben selbst: Man erlebt sich erlebend, um sich nicht real, etwa als launisch, zwiespältig, unzufrieden usw. zu erfahren)
(e) Sukzessiver Verflachungsbetörung (das ist eine fundamentale Möglichkeit, sich jeder Form von „Nicht-Ich: der Welt außer einem selbst“ dadurch zu entziehen, dass man die am einfachsten zu erreichende, nächstliegende Betörung ergreift, um der Last eines Nicht-Ich ledig zu werden; häufig: irgendeine Droge)
(f) Wachsender Unzufriedenheit (schon weil es nicht andauert: Das Bedürfnis nach einer Form konsumtiven Glücks stellt sich relativ schnell wieder ein, nachdem man sie genossen hat: Man bekommt nämlich im Falle des konsumtiven Glücks immer nur kurzfristige Befriedigung, aber keine Freude oder gar Erfüllung)
Ich wage die These, um diese an das Ende des Abschnitts (D) zu setzen: In einer notwendig - zumindest objektiv (soll heißen: subjektiv erlebnisintensiv erfolgreich verdrängten) - nihilistischen Gesellschaft, einer kollektiv wie subjektiv kulturell verfallenden Gesellschaft, wie sie unter (D) beschrieben wurde, ist verantwortungsvolles, faktenbasiertes, sachliches und zielgerichtetes politisches Handeln als letztlich geistiges(!) Wirken nicht mehr möglich: Das Politische verkümmert parallel zum, gebunden an das Verschwinden hochkultureller Halt-, Zweck- und Ziel-Kategorien; und dies auch dann, sollte man versuchen, korrigierende Eingriffe vorzunehmen: Der komplex verwobene Vorgang ist unaufhaltsam und unumkehrbar.
(E) Gründe für den Verfall der deutschen Sprache (s. dazu auch oben (A))
(1) Der Mensch der Überflussgesellschaften begreift sich primär als Körper (in Konkurrenz zu anderen Körpern), nicht als Geist-, Intellekt- und Moral-Wesen, also nicht als Person. Er ringt mit anderen nicht um geistige Exzellenz, sondern um körperliche Vorzüge und konkurrenzfähigere Klugheitsstrategien, ringt mit anderen um Sexualpartner, gesellschaftliche Stellungen, Anerkennung (Prestige) und Bewunderung, berufliche Positionen usw.
(2) Der heutige Mensch ist sich selbst Kapital in den genannten Hinsichten; dessen Wert zu vermehren, er sich ständig bemüht (muss es auch in der Regel)
(3) Der heutige Mensch will sein Leben erleben (Gerhard Schulze), es aber nicht erfahren (soll heißen: unmittelbar genießen, aber nicht distanziert möglichst scharf (genau und also faktenkonform) erkennen
(4) Der heutige Mensch ist immer häufiger v. a. ein narzisstischer Existenzschauspieler, der nur sich selbst, nicht aber der Gesellschaft verpflichtet ist; es geht diesem Menschen nur um sich selbst
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(5) Der heutige Mensch erlebt sich als Ware (er hat sich selbst verdinglicht zu optimier- und manipulierbarer Körperlichkeit), als Macht-, Markt- und Genuss-Potenz, Tauschobjekt, Zeitgeistfetisch usw.
(g) Der heutige Mensch ist ein auf sich selbst zurückgeworfener (verlassenheitsgefährdeter), in einer nihilistischen Welt existierender, verdrängungsintensiv sich selbst und seine objektive Lage vermeidender Markt-Spielball
(h) Der heutige Mensch muss alles vermeiden, was ihm die Augen über seine Stellung in dieser Welt öffnen könnte: Der Mensch heute kann/könnte seine objektiv allumfassende Nichtigkeit (er ist eine Materie-Morphe; vgl. oben (A)) nicht ansatzweise ertragen: er verdorrte seelisch, wüsste er um diese
(i) Der heutige Mensch ist hyperemotional; dabei geht es ihm um massiv ihn ergreifende und durchflutende Erregungszustände, die ich als Formen auch eines geistigen Selbstverlustes glaube deuten zu sollen; soll heißen: seelische Verarmung, die sich als „motorisch tobende Wortlosigkeit“ vollzieht. Es sei so ausgedrückt: Alle feineren Formen, insbesondere auch die geistig-erotischen, der Lebensfreude verschwinden immer mehr, soll auch heißen: Die Individuen unterliegen/sind disponiert zu einer permanenten, sich motorisch - nie sprachlich - manifestierenden Erregungszufuhr als Mittel einer Art von vereinheitlichter (auch: Verbrauch anregender) Emotionenbewirtschaftung, um sich von sich selbst als potentiell daseinsinkompetenten, gleichgeschalteten und wirklichkeitsflüchtigen Daseinsdesorientierten abzulenken
(j) Indes: Soll, kann, muss, darf, will ich die Menschen bildungsarmer Sprachlosigkeit zeihen? Nein; darf ich und will ich nicht, schon weil ich mich, täte ich es, dann vor mir selbst lächerlich machte. Denn: In dieser heutigen, sozusagen klein gewordenen Welt verfügt keiner mehr über sich (er vermöchte es selbst dann nicht, wenn er denn tatsächlich „autonom“ („selbstgesetzgebend“, frei) wäre. Indes: Selbstbestimmungsfähigkeit in einer Welt wie der heutigen: einer globalen, nicht guten, aber auch nicht schlechten, sondern schlicht dauergefährdeten Welt pleonexiehöriger Wohlstands-Marionetten, kann es nicht geben; schon gar nicht, wenn man weiß, dass wir alle vollständig determiniert sind (wir verfügen nicht über einen freien Willen; auch das sei wiederholt). Und das bedeutet auch: wir sind bis in unsere Kerne (soll heißen: ausnahmslos und vollständig) auf unsere individuelle, genetisch zufällig bedingte Art und Weise, daseinshilflos
(k) Und: Wir sind alle ein rationales (Verstandes-) “Exemplar“ einer in mehreren Hinsichten sich selbst gefährdenden Art (homo sapiens); sie gefährdet sich
(i) ökologisch
(ii) als transzendenzlose (metaphysisch enteignete: gott- und also: sinnlose)
(ii) kulturell-geistig arme
(iii) gesellschaftlich-sozial sich auflösende
(iv) politisch wirklichkeitsverlustige
(v) technologisch sich selbst entmächtigende (KI)
(vi) existenziell überhaupt als regressive (besonders: reflexionsregressive): Wir sind gewissermaßen - und zwar notwendig
(vii) „autokatastrophal“
- n i c h t weil wir „böse“ (das ist ein theologischer Begriff, der den Menschen im Verhältnis zu Gott, seinem biblischen Schöpfer, beurteilt; nicht aber beurteilt den Menschen im Verhältnis zu sich selbst als zufällig entstandenem Atom-Konglomerat, fußend auf materiellen „Monaden“: Quarks und Elektronen, im Rahmen einer terrestrischen biologischen Evolution) wären, nein, deswegen: weil wir psychoethisch (seelisch-moralisch-geistig) nicht fähig sind, die Folgen unserer eigenen Rationalität zu meistern, Herren sein könnten/ dürften unserer triebhaften Weltentbergungs-Sucht (naturwissenschaftlich-experimentell geleistet) und unserer technischen Verfahrensvirtuosität, deren Ergebnisse uns - nunmehr - zu digitalen Knechten zu
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machen drohen.
(6) Dazu nun folgende Ausführungen: Spiegel-Artikel 40/2012: „Das Niveau sinkt“. Ein Interview mit dem Altphilologen Gerhard Wolf von der Universität Bayreuth, der (etwa 70) Professoren zur Studierfähigkeit ihrer Studenten befragte - und vernichtende Urteile bekam. Alle Hervorhebungen von mir, Sa. Ich zitiere eine Stelle aus dem Interview:
Wolf: „Die Defizite liegen vor allem in der Sprach-, Lese- und Schreibkompetenz, das haben alle Kollegen genannt. Damit gemeint sind Rechtschreibung, Grammatik, Syntax, Interpunktion, der Umgang mit den Tempora und der Wortschatz. Beim Lesen erfassen viele die Aussage eines längeren Textes nicht. Beim Schreiben und Sprechen können viele Studenten ihre eigenen Gedanken und Argumente nicht richtig ausdrücken. Sie schreiben in Vorlesungen nicht einmal mehr mit“.
Spiegel: „Das hört sich dramatisch an.“
Wolf: „Moment, ich bin noch nicht fertig. Auch das Fachwissen geht zurück, und die Allgemeinbildung ist bei manchen Studenten erschreckend. Einige glauben, der Zweite Weltkrieg habe im 19. Jahrhundert stattgefunden …“
Wolf: „Das Niveau sinkt …“
Spiegel: „Angehende Lehrer sind doch wohl der deutschen Sprache mächtig?“
Wolf: „Nicht unbedingt, die Mängel fallen mir da ebenfalls auf. Und da sich im Laufe des Studiums nur leichte Verbesserungen einstellen, entlassen wir Lehrer, die bei ihren Schülern nach meiner Schätzung maximal die Hälfte aller Fehler noch erkennen können.“
Spiegel: „Was ist denn der Grund für den Kompetenzverlust?“
Wolf: „Das Phänomen ist relativ neu. Die Studenten kommunizieren auf eine Art, die dem sorgfältigen Lesen und Schreiben im Wege steht. Damit meine ich vor allem Kurznachrichten per SMS und Twitter. Die können sich kaum noch längere Zeit auf eine Sache konzentrieren. Ihr Manko ist ihnen zwar bewusst, trotzdem scheint sie unser Anspruch an Sorgfalt zu nerven …“
Wolf: „Natürlich habe ich auch Reaktionen von Kollegen aus anderen Fächern bekommen: Ingenieurstudenten können nicht mehr ohne Taschenrechner rechnen, Architekten können nicht mehr zeichnen, Mediziner können keinen Arztbericht mehr formulieren …“
Weitere Ergebnisse aus Professor Wolfs Umfrage:
„Einen wachsende Gruppe von Studierenden ist den Anforderungen des von ihnen gewählten Studiengangs intellektuell nicht mehr gewachsen.“
„Die mangelnde Studierfähigkeit zeigt sich vor allem in der stark unterentwickelten Fähigkeit, kompetent und souverän mit der (deutschen) Sprache umzugehen.“
„Konjunktive schwinden aus den schriftlichen Arbeiten ebenso wie zunehmend alle Zeitformen jenseits des Präsens.“
„Studierende wissen nicht mehr, dass es in der Bibel ein Altes und ein Neues Testament gibt.“
„Der aktive Wortschatz schrumpft auf wenige hundert Ausdrücke, die penetrant wiederholt werden."
„Das Wagnis, ein komplexes Satzbaugefüge zu bilden, endet regelmäßig in peinlichen Niederlagen.“
„Schriftliche Arbeiten sind oft von einer erschreckenden Schwäche gekennzeichnet, eigene Gedanken auszudrücken oder Argumente vorzubringen.“
„Verstehendes Lesen ist eine Kunst, die kaum eine/r unserer Erstsemester beherrscht.“
„In Geistes- und Kulturwissenschaften erscheinen Studierende, die kaum einen syntaktisch und grammatisch stabilen Satz produzieren können.“
„Studierenden ist oft nicht klar, dass sie, um einen Text zu verstehen, zusätzliche Quellen (z. B. ein Lexikon) heranziehen müssen.“
„Verheerende Auswirkungen schreibe ich dem zutiefst inhumanen und leistungsfeindlichen
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Noten- und Tempo-Fetischismus unseres Schulsystems zu, das ihn mit dem systemimmanenten Ansatz kombiniert, harte Leistungsfächer bzw. anspruchsvolle Pädagogen durch weiche Fächer bzw. schwache Lehrer, die gute Noten vergeben, um sich zu schützen, zu ersetzen.“
(7) Zitate/Auswahl
Gerhard Schulze (1992): ‚Die Erlebnisgesellschaft’,
S. 58 f
„Im Entscheidungssog der Möglichkeiten wird der Mensch immer wieder auf seinen Geschmack verwiesen. Vor dem Fernseher beim Einkaufsbummel, bei der Auswahl des Urlaubsziels, im Zeitschriftenladen usw. muss man sich danach richten, worauf man Lust hat, wonach sonst? Der Handelnde erfährt sich nicht als moralisches Wesen, als Kämpfer für ein weit entferntes Ziel, als Unterdrückter mit der Vision einer besseren Welt, als Überlebenskünstler, als Träger von Pflichten. Wissen, was man will, bedeutet wissen, was einem gefällt. „Erlebe dein Leben!“ ist der kategorische Imperativ unserer Zeit.“
Robert Bly schrieb 1996 in seinem Buch: ‚Die kindliche Gesellschaft - Über die Weigerung, erwachsen zu werden’, S. 77:
„Das Individuum, das sich von der Anstrengung der Kultur verabschiedet, erhält dafür die Erlaubnis zum Narzissmus, Freiheit vom alten Unbehagen und eine Freikarte für das große Illusionstheater, in dem Phantasien aller Art auf dem Programm stehen. Man könnte auch sagen, dass der träge, lüsterne Teil der Seele die Erlaubnis erhält, zu tun, was ihm beliebt. Tausende anderer Halberwachsene in anderen Ländern werden das Verhalten eines solchen Menschen decken, so wie eine Truppe jeden Soldaten beim Rückzug deckt.“
Und S. 228 heißt es:
„Wir stehen heute alle vor dem Scherbenhaufen einer Schriftkultur, wir schauen auf die Ruinen von Bildung und Erziehung, auf die Trümmer der Familienordnung und des Kinderschutzes … Wir ertrinken in einer Flut von Informationen. Wir leben mit apathischen, mutlosen Jugendlichen, die keine Hoffnung kennen. Wirkliche Arbeit verschwindet allmählich, und wir konstatieren eine zunehmende Infantilisierung von Männern und Frauen.“
Norbert Bolz (Das konsumistische Manifest, 2002)
„Pleasure ist die Welt des begeisterten Kunden.“ „Markenprodukte besetzen Ideen, um sie schließlich zu ersetzen.“ „Es geht ( ... ) um Entertainment, Genuss, Lust.“ „ ...Deshalb kann nur noch das Neue (oder eben: die Neue) für wesentlich gehalten werden. Sein ist Erregtsein.“
Hans Ebeling (2002): ‚Denksturz der Moderne’, S. 28: „An die Stelle der Selbstbestimmung ist das Programm der angeleiteten Verwahrlosung getreten.“
(8) Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, Frankfurt am Main, 1973, Kapitel 12. Über Sprachlosigkeit und Lüge, S. 177ff
„Wir leben aus objektiven Gründen in einem Zustand der Sprachverarmung, die differenzierte Gedankengänge seltener macht … Damit steigt die Neigung zu moralisierenden Argumenten, um den Verständigungsprozess abzukürzen.“
Weiter Gehlen: „Diese Verarmung der Sprache erfolgte aus mehreren Gründen: Die Massenbildung bewirkt selbst schon eine Simplifizierung des Denkens, die Massenmedien arbeiten in dieselbe Richtung, und die Politik setzt oft ganze Bedeutungsfelder unter Druck. In dieser Hinsicht gibt es heute Beutebegriffe wie „Diskussion“, „Demokratisierung“ oder „autoritär“, die sofort jeden Sachwiderspruch zum Schweigen bringen.“
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Georg Steiner, zitiert bei Gehlen, S. 177, führt aus, dass der heutige Autor (Steiners Beitrag stammt aus dem Jahr 1962) dazu neige, viel weniger und einfachere Worte zu verwenden, denn zum einen habe die Massenkultur die Fähigkeit des Lesens und Schreibens verwässert, zum andern habe sich die Anzahl der Realitäten drastisch verringert (man brauche also, so verstehe ich das, eben deshalb, weil die Welt sozusagen faktenärmer geworden sei, viel weniger Worte). Und überhaupt stehe dem Halbgebildeten der Zugang zu wirtschaftlicher und politischer Macht offen, was ebenfalls zu einer „drastischen Minderung des Reichtums und der Würde des sprachlichen Ausdrucks“ geführt habe.
Heute, in 2024, haben wir freilich Zustände, die mich veranlassen, folgende, vielleicht für manche anstößige Behauptung aufzustellen, nämlich die, dass, um es drastisch auszudrücken, das Bewusstsein einer wachsenden Anzahl von Menschen
(a) zwischen medial verordnetem Stumpfsinn
(b) Flachschichtigkeits-Emotionalismus
(c) neurotischer Hypersensibilität gegenüber bloßen Worten
(d) dem gebetsmühlenartigen Wiederholen von ideologisierten (politisierten) Schlüssel-Tugendbegriffen und blauäugig-christlichen Beschwichtigungs-Leerformeln
(e) von Reklame-, Polit- und Schund-Medien-Sprech
(f) von Angliszismen primitivpsychischer Einheitskonditionierung (Beispiel: „fuck“), um auf diese Weise wenigstens formal erregungsdrastische innere Resonanz-Leeren - Marktabrichtungsverkümmerungen - lautlich zu unterscheiden und zu katalogisieren - wow!)
(g) Verbraucher-Idiosynkrasien (Überempfindlichkeiten) und - folglich -
(h) einer vollendeten Geist-Atrophie („Schwund“) faktendeutungsimpotent gleichsam in sich selbst verbannt, hin- und herschwappt; immer mehr auf entlastende Erlebnis-Magie verwiesen als auf auch sprachlich fordernde Realitätsbewältigungsaufmerksamkeit und Gedankenschärfe; die schwinden rapide
Feststeht indes: Das Geistige als Erkenntnisdrang ist per se asketisch: ablehnungsträchtig, skeptisch, resistent gegenüber den Belämmerungs-Finessen konsumdiktatorischer Daseinsprägungen; es muss - seinem Wesen nach - setzen auf Selbstmächtigkeit (Selbstbewahrung), Fakten-Entlarvung (Ziel: ein adäquates Selbst- und Welt-Verständnis); es zwingt seinen Träger zu Sachlichkeit, Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, hält ihn an, verpflichtet ihn zu Bildungswilligkeit, persönlicher Reife, Lebensernst usw. usw. … das Geistige ist also angesichts der kollektiv grassierenden
(a) Pleonexie: Ich-, Hab, Macht- und Genuss-Sucht
(b) angesichts des allseits herrschenden Narzissmus (s . o. (D) (3), Anm.*)
(c) als Gegenmacht zu Zeitgeist-Kategorien wie Atheismus, Materialismus, Eudämonismus/Hedonismus, Infantilismus, Nihilismus … nichts weiter mehr als eine Art „bizarre“ Persönlichkeits-Marotte, die für die allermeisten Menschen irrelevant ist, jedenfalls weltfremd-folgenlos, für alles heutige Geschehen bedeutungslos und tatsächlich so gut wie verschwunden: Die Menschen fühlen/sehen keinen Grund (sie hören auch von keinem; ja: eine mögliche Sehnsucht danach wird ihnen spaßentfesselungssubtil ausgetrieben), mehr aus sich zu machen als leibdrangzentrierte Erlebnis-Jäger - und ich kann ihnen das nicht verdenken: Das Geistige marginalisiert, macht einsam, erregt Misstrauen, wirft einen auf sich selbst zurück, schmerzt gar zuweilen: Durchschaut es doch mühelos alle Formen der psychoethischen Verwahrlosung, der Verantwortungslosigkeit, der geistigen wie faktischen Korruption, der Dekadenz, der Auto-Deklassierung, der Selbst-Verheiligung, des primitiv-machtstrategischen Selbstbeweihräucherungs-Gehabes, weil alle diese Phänomene (und weitere fragwürdige, die hier nicht genannt werden) in der heutigen Überflussgesellschaft weit verbreitet sind, zumal in dieser einen idealen Nährboden haben.
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(9) Zu Gehlens Ausführungen noch dies:
(a) Die Verarmung der Sprache ist in einer mehr und mehr atheistisch-materialistisch-hedonistisch ausgerichteten Wohlstandsgesellschaft zunächst deswegen nicht zu vermeiden, weil die wirtschaftlich-technischen Bedingungen (etwa: progressiv vollzugsrationale Gewinnsteigerung, Digitalisierung, KI), Ziele und Zwecke dieser Gesellschaft (Sinngebung und Diesseits-Erlösung durch Erlebnis(-) Genuss-Konsum) automatisch den Abbau fein ausdifferenzierter Seelenschichten begünstigen, also: nach sich ziehen müssen, um sie dann immer mehr zu vergröbern - bis sie sich auflösen: Eine rein diesseitig ausgerichtete Wohllebens-Existenz muss mit geistiger Verarmung, Verrohung und Verkümmerung notwendig bezahlt werden; und zwar deshalb, weil sie, diese Wohllebens-Existenz - das scheint nur paradox zu sein, ist es aber nicht - ohne diese drei genannten Vorgänge der geistigen Verarmung, Verrohung und Verkümmerung gar nicht gemeistert werden könnte; eine rein diesseitig orientierte Wohllebens-Existenz zerstört das Sein des Menschen als geistarchaisch-irrationales: metaphysisches Wesen, d. h. als Geborgenheits- und Sinn-Sehnsucht in sich tragendes, auch selbstzurücknahmefähiges Wesen: Der heutige Mensch ist sich: m u s s sich - unumkehrbar - zum ersten Mal genau das sein (als genau das erfahren), was er, der Mensch, an sich schon immer war: Ein zufällig in eine völlig sinnlose Welt „geworfenes“, selbstbehausungsunfähiges Materie-Tier (vgl. (A)). Und eben genau dies weiß er jetzt, verdrängt es, völlig außerstande, es zu ertragen: Zeit, Körper, Ding, Systemdrangsal, Nichtigkeitsbüttel, Markt-Lakai und Verlassenheits-Monade zu sein, die sich an sich selbst vorbei schweigen muss … Weshalb er sich: Kreatur-Drangsal, in ständig sich wiederholende Erlebnis-Räusche wirft/werfen muss: in leibekstatisch provozierte Sprachlosigkeit: außengesteuert von sich abgelenkt in die Nebel konsumdiktatorischer Erlebnisschwaden gehüllt
(b) Es sollte (bei Gehlen, s .o.) - die heutigen Bedingungen präzisierend heißen: „Die Massenbildung“ - unter den heutigen Voraussetzungen rationaler All-Entlarvung und nihilistisch forcierter Enthemmungsbedürftigkeit! - „bewirkt … eine Simplifizierung des Denkens …“, und die Massenmedien müssen „in dieselbe Richtung“ arbeiten, eben weil die Welt nunmehr lückenlos und vollständig das ist, was sie unter den angegebenen Bedingungen wurde: Eine Welt toter Fetische, verdorrter Seelen und tugendfanatisch verlogener Weltverbesserungs-Phantasien: Ding-, Körper-, Waren-, Verfahrens-, Gleichungs- und Erlebnis: Entlastungs-Welt …“
(c) Um freilich meine Bemerkungen zum Thema „Kultur-, Geist- und Sprach-Verfall“ nicht allzu sehr auszudehnen, empfehle ich die aufmerksame Lektüre des 12. Kapitels von Gehlens Buch „Moral und Hypermoral“, wo sich nach meiner Meinung manches findet, was genau zu überdenken sich allemal noch immer lohnt. So etwa diese Feststellungen (S. 178: (a) bis (c); und S. 182 (d)):
(i) Die Herstellung des Bewusstseins mittels technischer Apparaturen (nach Frank Benseler); ich denke da sofort an KI
(ii) Gehlens Wahrnehmung einer geradezu zeitungshaften „Bewusstseinsstruktur“ (heute: einer digital geschaffenen Emotions-Wortlaute-Struktur)
(iii) Der Verdacht Gehlens, dass die Phrase bis in die Organisationszentren des Bewusstseins zurückschlage, und dass man ungestempelte (meint: zeitgeistkonform ideologisch nicht „autorisierte“) Einsichten und Wertungen in das herrschende, verständliche Vokabular nicht mehr einbringen könne (so wie ich meine Gedichte in diesem nicht mehr verorten kann: sie sind, der herrschenden Wort-Sensibilitäts-Tugend widersprechend, weitgehend unverständlich)
(iv) Zumal der Staat aus objektiven Gründen mit der Gesellschaft zusammen rinne, auf bestimmte, im Wesentlichen wirtschaftliche und soziale Aufgaben hin zweckrationalisiert sei, also auch verzichte auf den moralischen Schutz der Staatsbürger
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voreinander, und gegenüber der Gesinnungs-Unterwanderung wehrlos werde, die er bei Mächten wie Kirche, Presse und Rundfunkanstalten selber privilegiert habe. Folglich entfielen allein schon von dieser Seite des Staates her die Gegengehalte, „die eine Gesellschaft verhindern könnten, das entgegen gesetzte Extrem zu erleiden, nämlich die volle Aggressivität der guten Sache.“ (die heute jeder kennt; vor allem auch als narzisstische Rücksichtslosigkeit und reflexionsarmen Phrasen-Stolz)
(10) Weitere Bemerkungen betreffend einige Grundlagen des Verfalls der deutschen Sprache
(a) Grundlage: Geistige Öde. Irgendwo habe ich gelesen, dass die Verderbnis der Sprache die Verderbnis des Menschen sei. Der, der das sagte, wusste ganz genau, wovon er redet: So ist es nämlich. Was aber bedeutet es unmittelbar für die Individuen überhaupt, wenn ihnen die sprachlichen Kompetenzen immer weiter abhandenkommen? Sie erleiden
(b) Macht-Verluste (ein Verlust etwa von Existenzsteuerungs-Macht, die, verstärken sich Erkenntnis-, Deutungs- und Orientierungs-Schwäche schleichend immer mehr, dem entsprechend verloren geht; also es kommt zu massiven Selbst-, Welt und Wirklichkeits-Verlusten; und also auch zu Identitäts-Verlusten: man wird so entsprechend empfänglich für alle Arten von depersonalisierender Außen-Lenkung (Zentralbegriff in David Riesmans Buch: Die einsame Masse von 1953). Es handelt sich um eine geistige und kulturelle Entmächtigung, im Gefolge derer sie, die betroffenen Individuen, immer mehr einer ihnen letztlich schädlichen (mögen sie diese auch als lustvoll erleben) Zeitgeisthörigkeit verfallen (müssen); also auch einer sie fortschreitend gängelnden Marktknechtschaft
(i) Man wird sich, intellektuell-geistig-sprachlich geschwächt, mehr und mehr auf fremde Interpretationen der gesellschaftlichen Wirklichkeit - etwa auf mediale und politische - verwiesen sehen; das ist dann das Ende des von Kant als Aufklärungsziel propagierten „sapere aude“: „Wage es, zu wissen; denke selbst nach!“ usw.)
(ii) d. h. aber auch, dass man einer Art Wirklichkeitsschwund sich ausgesetzt findet, zumal die Gesellschaft als kapitalistisch-technisch-naturwissenschaftlich getragene und verwurzelte für die Individuen tatsächlich immer mehr zu einem Monadenzwangsgefüge individueller Verlassenheit: zur Verdinglichungs-Traumtänzerei als technologisch hergestellte Vollzugsfiktion wird: Konditionierungsmaschinerie für Sozial-Monaden auf eine Art von „fun-Stalinismus“ hin*
Anm. *: Ich gehe davon aus, dass der Mensch seine geistigen (sprachlichen) Fähigkeiten weiter einbüßen wird: er wird sich z. B. „erntfesselungsträumerisch-gefühlsprimitiv“ wappnen müssen dagegen, dass er (Stichwort: KI) nicht mehr wird wissen können, was wirklich, was unwirklich, was Traum, was Trug, was Wahrheit, was Lüge ist, was gilt, gelten sollte und was nicht; zumal er sie ansatzweise schon deswegen einbüßen musste, weil er kein metaphysisches Wesen mehr ist: Er hat Gott getötet (wie Friedrich Nietzsche sagte); hat er; und mit Gott die eigene geistige Essenz. Der Glaubensverlust bedeutet selbst schon „Verdiesseitungszwang und -drangsal“, also: Die Banalisierung der menschlichen Existenz: Der metaphysisch unbehauste (Georg Lukács) Mensch, der Wohllebens-Heide, muss sprachlich-geistig (im weitesten Sinne des Wortes), versagen/verkommen/sich verlieren; muss es, weil er als diese um seine materielle Existenz kämpfende Ich-Selbst-Einheit, alle große Sehnsucht (die ist metaphysisch fundiert), allen Antrieb zur Selbsttranszendenz, alle Selbstachtung auch, jedweden Antrieb, am Ende mehr aus sich zu machen als einen sich selbst beweihräuchernden Erlebnis-Verbraucher, notwendig verliert.
------------------------Ende der Anm.*
(c) Grundlage: Phantasielosigkeit: Der von der Reklame abgerichtete Kunde strebt nach spaßgeladenen konsumtiven Erlebnis-Vollzügen: Nach Effekten, Reizen, Emotionen vor allem, nicht aber nach Begriffen zu Erfahrungen, zur Existenz-Aufklärung, nicht nach Selbst-
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und Weltverständnis: Phantasielosigkeit ist ein Bastard gängiger Pleonexie (Ich-, Hab-, Macht- und Genuss-Sucht), das Resultat einer Gier auf sich selbst)
(d) Grundlage: Narzissmus (s. o. ((D) (3), Anm.*). Dieser erfordert nicht differenziertes Sprechen über empirische: tatsächliche, reale Gegebenheiten, sondern Selbstinzenierungsverflachungsgeschwätz und -geraune, um sich als wichtiges Individuum in Szene zu setzen, andere zu beeindrucken, sich also interessant zu machen, gar sich selbst zu mystifizieren usw., um die Leute um den Finger zu wickeln, sie sich geneigt zu machen, um sie auszubeuten (machtstrategisch politisch, wirtschaftlich, sexuell usw.), nicht aber zu informieren, aufzuklären, zu bilden usw.)
(e) Grundlage: Emotionalisierung. Die provoziert das „Kippen in die Sprachlosigkeit“; überhaupt: Emotionen verlangen nicht nach intellektueller Differenziertheit, sondern nach expressiv geladener Körperaktivität: Singen und Tanzen, Schreien, Toben, Betasten, Erregungszustände gleich welcher Art. Differenziertes Sprechen freilich fordert körperliche wie geistig-seelische Konzentration, fordert Distanz zu sich als Begehrlichkeits-Befangenheit, zu sich als Trieb-Drangsal und zu sich als Subjekt seelischer Verflachung. Das übermäßige Verlangen nach expressiver Körperaktivität verweist oft darauf, dass den entsprechend sich verhaltenden Individuen das Belebende im Gemüt („Geist“ nach Kant) tatsächlich abgeht. Emotionalisierung der Individuen, die diese geneigt machen, sich den Verspaßungsorgien des Systems (etwa der Pop-Musik) bedenkenlos zu überlassen. Emotionalisierung verstärkt nämlich entscheidend das sich Hingeben an Hedonismus, Infantilismus und Materialismus; und: die Neigung zu gängigem Narzissmus (als Authentizitäts-Inszenierungs-Magie all-desorientierter Ich-Schwacher). Weiter muss man so etwas wie fortschreitende sittliche Unreife in Rechnung (diese liegt im Wesen des Infantilismus) stellen, die freilich oft einhergeht mit Tugendfundamentalismen, primitivisierenden Weltanschauungs-Sottisen und Laisser-faire-Ideologemen, die ganz eng zusammenhängen mit der Korrumpierung und Lächerlichmachung von Reife, Ernst und überhaupt jeder Form von Konsum-Verzicht.
M. a. W.: Der spracharm-geistlos-narzisstisch sich grandios inszenierende, auf Erregungszufuhr und Emotionenbewirtschaftung angewiesene Mensch musste unter diesen Umständen Standard werden; und er wurde es, wurde es als Schund-Virtuose
(f) Grundlage: Entweltlichung/Realitätsverluste. Diese ergeben sich schon aus der Tatsache, dass wir alle uns in „abstrakt-technisch-apparativ-erfahrungsmindernden oder affektentfesselnden oder verlockungsträchtigen Lebenswelten bewegen (müssen) - Beispiele: alle Arten von Kunstwelten wie etwa die Großstadt, das Büro, eine Bar, ein Pop-Konzert, Bahn- und Flughäfen, Sportarenen usw. usw. - kurzum: an und in künstlichen Orten als unnatürlich rational „dauerentwirklichten“ Örtlichkeiten, im Rahmen derer eine gewisse geistig-seelische Verarmung und Verflachung nicht zu vermeiden sein dürften, weil sie als „Monadenmassierungs-Orte“ zu verstehen sind: Als Orte einer Art Selbst-Entfremdungs- und Entfesselungs-Schauspielerei emotional identisch ausgerichteter Erwartungshaltungen
(11) Weitere Anmerkungen: Paul Watzlawick sagt ganz richtig, man könne nicht nicht kommunizieren; das heißt aber nicht, dass man sich lückenlos selbst verstehen (tatsächlich konstruiert man sich mit Hilfe der Sprache) und überhaupt mitteilen könne; ich bleibe bei Georg Trakls gelegentlich geäußerter Meinung, dass man sich eben letztlich n i c h t mitteilen könne (so wenig, wie man ein Du verstehen kann).
Dann stellt sich freilich die Frage, warum ich überhaupt Gedichte schreibe, wenn ich denn tatsächlich glaube, ich könne mich nicht mitteilen. Nun:
(a) Um mich selbst zu bewahren (vor der mich ohne Unterlass heimsuchenden und auch übermächtigenden Überflussgesellschaft, in der ich mich zurecht finden wollen muss: das ist ein evolutionsbiologischer Imperativ
(b) Um mich, mich selbst sprachlich entbergend, als möglichen Bedeutungszusammenhang muttersprachlicher Magie(!) zu schaffen - und zwar in ein Gedicht hinein
(c) um so auch mich winziges Teilchen baryonischer Materie aus seiner objektiven All-
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Nichtigkeit zur Selbstanschauung seiner als bewusstlos-stumm-zufälliges Ergebnis materieller Selbstorganisation zu Geist: Sein in Sprach-Magie zu gewahren; zuletzt
(d) um für ein paar Minuten oder auch Stunden den Pan-Nihilismus alles Seins zu meiden, zu vergessen, auszuformulieren, zu entschärfen usw.
Was will ich mehr? Überrenne ich doch so scheinbar meine unaufhebbare Gebundenheit an jene Materialität (s. o. (A)), um in der Fiktionalität des Geistigen (meiner Muttersprache) für ein paar Momente auch einer Sehnsucht gewahr zu werden, die naturalistisch gewiss zu erklären (Geist ist ein Nebenprodukt der Gehirnentwicklung), aber nur existenziell-irrational-menschlich zu begreifen ist: Ich meine die Sehnsucht des Geistigen nach sich selbst als Hyle-Transzendenz (Stoffüberschreitung) und die nach Vollendung: nach Gott, den ich - diese geniale Quelle tragender Irrationalität und Weltüberscheitungssehnsucht - aus der Kindheit ins Erwachsenenalter mitnehmen durfte -, auf dass ich ihn, mit ihm seelentief vertraut, nie mehr verlieren werde)
(e) Um mich, Gedichte machend, in die Lage zu versetzen, die Grundlagen, Objektivationsweisen, Ziele, Zwecke, Selbsttäuschungen, Bedarfsfiktionen: Werte, Illusionen usw. der Gesellschaft, in der ich lebe, zu begreifen (so weit dies eben überhaupt möglich ist) und also „geistig einzufangen“ - die heutige Gesellschaft, die sich nach und nach wohl selbst entgleiten wird, wie ich es angesichts der Entwicklungen der letzten ca. drei Jahrzehnte vermuten muss -, das muss ich versuchen und muss ich aushalten, denn diese Gesellschaft ist/wurde (ich muss es so sagen, denn es wird immer schlimmer) signifikant (s. o.(D)):
(i) unmenschlich: gierig und flachschichtig
(ii) amoralisch, tugendhypertroph und feige
(iii) korrupt und verantwortungslos
(iv) verachtungswürdig verlogen
(v) unfrei (ihre, der Individuen dieser Gesellschaft, Freiheits-Ansprüche und Träumereien sind ausnahmslos Entlastungs-Fiktionen für Erlebnisbetörte)
(vi) trance-, drogen- und entwirklichungs-süchtig
(vii) intolerant: wir sind unfähig zu Toleranz, weil wir, Toleranz einfordernd, intolerant werden müssen, denn: wir können, wie gesagt, weder nicht nicht wollen, noch nicht nicht werten. Es gibt also allenfalls tugendzwanghaft gewünschte, machstrategisch propagierte, als unbedingt an den Tag zu legende geglaubte oder Selbstbeweihräucherungs-Toleranz*
Anm.* Nur das Geistige allein bedarf keiner Toleranzforderungen, denn es kennt weder Rassen noch ethnische Gruppen, weder Adel noch Niedrigkeit, weder Pleonexie noch Narzissmus, weder Neid noch Gier, weder Machtsucht, noch Hass, noch Gewalt, weder Lüge noch Selbsttäuschung, weder Realitätsverweigerung noch Bereichs-Glorifizierung … Es ist aus sich heraus, als solches, asketisch-elitär ersehnte Vollendungs-Exzellenz; und wenn es sich als sich selbst in einem anderen Menschen erkennt/begegnet, dann glaubt es, von sich selbst trunken fasziniert, sogar an die Illusionen, die es, vollendungshungrig, sich von sich selbst macht (etwa die, irgendeine gesellschaftliche Relevanz zu besitzen)
Illusionen? Gewiss. Denn: Das Geistige ist nicht nur rational; nicht einmal vorrangig Intelligenz. Das Geistige ist vielmehr vor allem eine affektiv-irrationale: auch weltverachtend-metaphysische Sehnsucht, ist eben in der Tat auch eine Affekt-Kategorie, die das Sublimste und das Brutalste umfasst, was sich in der Tiefe menschlicher Widersprüchlichkeit als sich Sich-selbst-Ausgesetztsein finden mag: Hass, radikale Ablehnung, Verachtung, Inhumanität, Grausamkeit usw. usw.: Geist, das muss ich eingestehen, ist in einem etwas gleichsam Heiliges, sprachsublimes Künstlertum, radikaler Elitarismus und: Affekt-Primitivismus.
----------------------Ende der Anm*
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