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Diese Seite enthält 54 Gedichte (Prosa-, Reim-Gedichte und Sonette)
Das Märchen von der Selbstbestimmung (219)1/Zu vergleichen mit dem Gedicht (65/3427)
Konnte je ich selbst mich wählen:
Rational und autonom?
Obwohl doch Sozialatom,
Genom-Zufall und Selbst-Verfehlen?
Muss ich nicht mir doch gestehen,
dass ich ausgeliefert bin
mir als Schmerz- und Trieb-Geschehen,
Sein in Welten ohne Sinn?
Dass ich anerkennen muss,
mich, mich leiten Lebenslügen,
Gesellschaftszwang, Sozialverdruss,
psychisch mich zurecht zu biegen.
Niemand kann sich selbst bestimmen,
braucht indes als Illusion,
dass er selbst sich würde krümmen,
allfrei seiner Daseins-Fron.
Alter (220)2
Die Arzttermine häufen sich.
Warum, nun ja, ist völlig klar:
Verfall. Sei’s seelisch, körperlich;
verstärkend sich von Jahr zu Jahr.
Das ist doch der Lauf der Dinge:
Entkommen kann dem keiner.
Leben meint ja, dass man ringe
ständig mit dem All-Verneiner:
Tod genannt. Der auch erlöst,
ist man irgend antriebsleer;
einen in die Grab-Hut stößt,
nehmend fort dies Trauer-Meer.
Existentielle Perspektiven, Wirren und Tatsachen (221)3
Kann mich wirklich nicht beklagen.
Nichts doch könnte besser sein:
Hab ich doch an allen Tagen
Überfluss an Spaß und Wein.
Habe teil an Volksherrschaft,
Freiheit, liberalem Recht
an der Würde Prägekraft ...
Kurz: Mit geht's nicht schlecht.
Weiß indes, dass schwach ich bin:
allbedürftig, triebgefangen.
Weiß auch um die Mär von Sinn;
dass mich heimlich die belangen:
Zeit, Verfall und Psychen-Räuden,
Missbrauch, Macht und Lebenslügen.
Die sich mir als Hilfen deuten,
die mich sicher trügen.
Freilich sei es auch betont,
dass es so sein muss:
Weil dem Leben innewohnt
Wahnbegehren bis zum Schluss.
Weil es, hat man's erst begriffen,
sich als Kindertraum erweist,
faktisch Scheitern ist verschliffen,
um Verrat und Raffgier kreist.
Allverlassenes Dasein (222)4
Welt ist kaum noch klar zu greifen;
zu komplex und zu abstrakt.
Kollektiver Großhirn-Takt,
uns Geborgenheit zu schleifen:
metaphysisches Gewicht.
Kann doch Gott allein gewähren
Halt und Zweck: ein Sinngedicht …
flutend aus geheimen Sphären
unsre kalt gewordnen Seelen,
kalt, weil sie verdinglicht keifen:
Reize, Formeln, Mengen, Zahlen …
trüben ein Abstrakt-Gefügen,
brechend alle Geistesschalen,
spaßdebil sich zu versehren,
letztlich selbst sich zu bekriegen.
Redliches Leben (223)5
Es besteht aus Selbstabstand,
aus Erkennen und Verzichten.
Geisteskräften und Verstand,
fähig, selbst sich zu entlarven:
Auszudeuten sich dies Rennen,
es sich, wie es ist, zu lichten:
Dass es leiten keine Harfen,
oft Gewalt, die man muss nennen:
Barbarei in Wahn-Gewand.
Diese Fakten muss man kennen,
wissen, dass sie uns gewichten,
wesenstypisch sind, so warfen
in was wir nicht können richten.
Begründete Daseinsfremdheit (224)6
Was denn ist mit der gemeint?
Nun z. B. Artgenossen,
machtgetrieben einem Feind,
täuschend-lügnerisch verschlossen,
oft getrieben auch von Neid …
Zufall auch, den man beweint,
weil er Schmerz und Wirren sät,
macht sich in der Seele breit,
manchmal lange früh bis spät.
Ausgesetztheit überhaupt;
sich, den andern, Wir und Welt …
dass an Glück man doch nur glaubt,
weil es uns dies Dasein raubt
mittels Lügen, Ichsucht, Geld.
Ob man überwinden sie,
könne manchmal gar umgehen?
Nun, sie ist ein zähes Wie,
allerdings kein Zwangsgeschehen.
Folglich kann sie Glück zulassen;
großes, tiefes gar zuweilen.
Aber dieses scharf zu sehen,
ist den meisten nicht gegeben,
weil sie’s könnten gar nicht fassen,
weil sie selbst sich Misstraun säen,
weil sie’s könnten gar nicht teilen,
weil sie nur sich selbst anstreben …
so denn den Kairos* verpassen,
sinnlos so ihr Sein verprassen,
weil kein Glück sie darf ereilen.
*Kairos griech: der rechte Augenblick, in dem es etwas zu ergreifen gilt; tut's man nicht, kommt nie mehr eine zweite Gelegenheit.
Erklärung (225)7
Ob wer läse die Gedichte,
fasste auch als trauerschlichte
Zeugen einer Art*-Geschichte
hypertropher Großhirn-Zwänge,
leitend uns in Hybris-Fänge,
Gleichungs- und Verfahrens-Enge,
schicksalsdumpfe Macht-Gemenge,
Größenwahn, Gewaltgepränge…
weiß ich nicht, weiß nur, wir beugen
Zahl uns, Diesseits, Gier und Menge,
zu erleben uns als Wichte,
die als warenselig sich gemäße,
fronen der Verknechtungs-Strenge
rationaler Psychen-Dichte.
*Der Art homo sapiens
Heutiges Dasein (226)8
Was sein Zweck sei? Da gibt’s viele:
Gott ist tot, das Diesseits alles:
Folglich ist ein Zweck Gespiele
eines bloßen Ich-Einfalles.
Also Schein-Zweck, bin ich ehrlich,
Könnte doch nur Gott ihn schenken,
ihn mit Sinn und Halten tränken,
Seele, Geist und Sein zu lenken.
Doch wie’s abläuft, zeigt sich klarer:
Hirnzuchthaus, Verfahrenswelt,
Plus-Zins für die Trittbrettfahrer,
ihrer Selbstsucht ohne Leine,
ist’s ein Paradies für Gauner,
Trickser, Schwätzer, Werte-Rauner,
denen Lose günstig fallen,
weil sie wissen, sie zu krallen …
meistens mit Betrug und Geld.
Trotzdem spielte ich da mit,
spielte mit mein Leben lang.
Weil ich fasste anders Tritt …
Ohne großen Wohlstands-Drang,
Mir ging’s nie um Ehren-Schnitt,
nicht politischen Belang …
Darum nur, dass mich kein Zwang
hindere an Geistes-Schritt:
Toter Seelen Los zu stufen:
In Gedichte es zu kleiden:
So ein Maß hervorzurufen,
Selbststurz zu vermeiden.
Was nun also ist’s im Kern?
Ausdruck einer Gaukel-Wirre
für genormten Möchtegern,
dass sich der gewünscht verirre,
halte sich gar für den Herrn,
steuernd seinen Daseins-Stern.
Damit bin ich einverstanden,
auch weil’s manchen Vorteil bietet:
Fühlend Ecken nicht, nicht Kanten,
in sich selbst als Schein genietet.
In der Tat meint Dasein Traum
eines Schattens* eines Nichts;
den man wenn, indes nur kaum,
sieht im Werden des Gedichts.
*Eines Schattens Traum, das ist der Mensch (Pindar von Theben, Pythische Ode VIII, Vers 95f). So sehe auch ich, Sa., es.
Redliche Selbstausdeutung (227)9
Ich mache mir keinerlei Illusionen:
Ich bin ein hilfloser Spielball
dieser von uns selbst heraufbeschworenen,
wohl nicht mehr steuerbaren Verhältnisse.
Bin ein radikal von deren Mächten abhängiger,
gesellschaftlich vereinzelter,
auf seine subjektiven Einfälle zurückgeworfener,
objektiv bedeutungsloser Ausdeuter
einer geistig toten, sinnentleerten,
substanzverdinglichten Existenz.
Dass die meisten das anders sehen,
überrascht mich nicht.
Ist sie als solche doch, faktenkonform geurteilt,
objektiv schiere Notwendigkeit,
längst darauf angewiesen, all das,
was jene Verhältnisse ausmacht,
also was uns verkleinert, unglücklich macht,
psychisch ruiniert,
vereinzelt, zu Lebenslügen
und Realitätsverweigerungen zwingt,
zu Selbstaufgabe, Selbstverrat und Eskapismus,
zu Drogenkonsum, Verdrängungen, Beschönigungen
und Selbsterniedrigungen,
mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln
weiter zu entfalten,
auszuweiten und zu optimieren:
Diesen Kortex-Hades kalkülklug-glücksunfähiger,
würdelos-narzisstischer Wohllebensschauspieler
geistig inhaltsloser Daseinsvollzüge.
Unausgegorene Überlegungen (228)10
Was sollte ernsthaft ich bedeuten
den mir doch fremden andern Art- und Zeitgenossen?
Muss sich doch jeder für sich selbst vergeuden.
Zumal sich fügen allen Gossen.
Nur noch die Wohlstandsklammer hält zusammen.
Und nicht Vernunft; und nicht Kultur.
Ich nenne hier nur diese Ammen:
Geld, Habsucht und Genuss-Zufuhr.
Doch dass das gut gehn könne auf die Dauer,
das glaub ich eher nicht.
Es bröckelt längst doch schon die Große Mauer:
So hat der Staat verloren sein Gewicht.
Und Innenweltzerfall höhlt aus das Rechtsgefüge:
Entfesselt wachsen die Verwahrlosungen.
Und Kriminelle feiern Macht und Siege
mit ethischen Verlautbarungen.
Und so betrachtet, bin ich ziemlich froh,
dass viele Jahre mir nicht bleiben.
Die Zeiten werden nämlich roh,
wenn die Gesellschaft wird in Anarchiedruck treiben.
Vielleicht in einen Krieg gar aller gegen alle.
Geschieht’s, dann bricht sie durch die Barbarei.
Die fasziniert als Machtsuchtkralle:
Zu Folter, Hass und Rachsucht frei.
Zum Ende hin lauschend I (229)11
Monotonien einer Nacht,
ins Endfeile kriechend.
In die Dunkelheit lauschend,
kann ich ahnen,
wie sie sanftkalt
mit Erlösung locken.
Geständnis I (230)12
Die große logosblinde Daseinslotterie.
Was war sie mir von Anfang an so günstig!
Bewahrend mich vor marktverfügter Gängigkeit:
Den ständig hoch geschrienen Zeitgeistfallen.
Mir Kraft verleihend, mich früh einzusenken
in a priori folgenlose Geistesspiele.
Mich hinzugeben tiefer Einsamkeit,
Luzidität und kindlichen Phantasmen.
Verdienst war’s nicht. Es fiel mir einfach zu.
Prädestinierter Gnade ähnlich; genetischer wohl auch.
Wie sie nur Zufall eben schenken mag.
Ein Leben lang auch vor mir selbst gefeit,
auch wenn ich mal verlor, auch ausgebeutet wurde.
Mir ist zuletzt egal doch diese Welt,
die schofel ist, gemein und lustsiecharrogant
Ein Ort der Langeweile und der Surrogate …
Und hochsubtiler Dauer-Barbareien.
*Logos griech Geist, Vernunft, Sprache usw.
*a priori hier: von vornherein
Lebensunterhalt (231)13
Ich hab mein Geld verdienen müssen
in einem winzigen Büro.
Aus Selbstsucht taktisch Schein beflissen …
Das war nun einmal so.
Nicht schmerzlich.
Doch auch nicht bedeutend -
Es ging um meinen Lebensunterhalt.
Den Arbeitgeber und mich selbst ausbeutend,
gab ich dem bisschen Trug Gestalt:
Moral und Bildung, kulturellem Stuss.
Von mir als daseinszentrisch angepriesen,
erfüllte ich, dafür bezahlt, mein Mindest-Muss
auf bürgerlichen Traumspielwiesen.
Als ob mit jenen doch vereinbar seien,
Pleonexie, Medial- und Zeitgeist-Diktatur,
des Tugendmarkts lancierte Kindereien …
Betroffenheitskonsum auch nur.
Doch, wie gesagt, mir ging’s ums Geld.
Empfänglich war ich nie für Ideale.
Von denen keines dem Begriff standhält,
der auf die Kerne zielt und nicht die Schale.
Der das, was ist, sagt's ohne Illusionen.
An Tiefen nagt und nicht Sozialschablonen.
Gute Tage (232)14
Ich kann mich heute nicht beklagen.
Hab ich doch reichlich Zeit und Muße.
Zumal mein Anzug zeigt nicht eine Fluse.
Wie könnten besser sein die Lagen?
Selbst andere sind leidlich auszuhalten.
So auch Routine. Sogar Telefongespräche.
Selbst wenn jetzt Hektik oder Streit ausbräche,
ich könnte friedlich sie gestalten.
Es gibt so Tage, die mit nichts bedrücken.
Man bringt Verständnis auf und bleibt gelassen.
Nimmt hin die Schwätzer wie die Blassen.
Gewinnt selbst Abstand zu den eignen Tücken.
Simple Wahrheiten (233)15
Wir gehen alle um.
Das ist nun einmal so.
Und wissen alle drum.
Indes nicht wie,
nicht wann, nicht wo.
Dass Zeit und Los es ist.
Das weiß man auch.
Dass selbst Sekundenfrist
birgt in sich Scheitern.
So wie Begriffe,
die erweitern,
verweisen uns
auf des Alleinseins Hauch.
Dass man als Sollen lebt,
verschwankend Wertfiktionen.
Sich so nie selber hebt,
weil doch auf Wir verwiesen:
Mit ihm zu fronen
Machtspielmiesen.
Fremd bleibt das Du.
Ein Trugbild doch.
Das man sich
faktisch selbst entwarf:
Gefühlsgemodelt
sich als Selbstbedarf,
als einer Sehnsucht,
eines Haltes Ich.
In ihm verfehlend dann,
wie sonst, Wozu.
Eher schlecht (234)16
Ich weiß nur zu genau,
wie’s läuft:
Es läuft meist eher schlecht:
Man protzt und rafft,
man lügt und säuft,
sucht Deckung im Gefecht,
das jeder kämpft.
Es ist verfügt.
Verfügt vom Kern,
der blind betrügt.
Resignative Verwahrlosung (235)17
Dass diese Welt wird untergehen,
das ist mir relativ gewiss.
Indes trotzdem dann für sie einzustehen,
fehlt mir der letzte Biss.
Im Grunde ist sie mir egal.
Ich denke immer nur an mich.
Und diesbezüglich gibt es keine Wahl.
Muss man primär doch sorgen nur für sich.
Ich bin nicht schuld dran. Bin nur, was ich bin:
Und habe euch und mich verstanden:
In einem Dasein ohne Sinn,
kommt man sich sittlich leicht abhanden.
Zeitgeistmohngeschwafel/Sonett I (236)18
Und auch an diesem Abend tiefer Stille
bin ich, dank radikaler Einsamkeit,
zufrieden, ihn für mich nur zu erleben,
befreit von aller Du-Last: Gier-Geschwafel.
Ich sage nicht, das sei mein freier Wille.
Doch ist es besser ohne Fremdgeleit,
mich meinen Einsichtsmühen hinzugeben …
statt Phrasen einer Artgenossen-Tafel.
Zumal ich war mein Leben lang für mich,
von früh auf dran gewöhnt, allein zu bleiben.
Was mir dann zur Gewohnheit ist geworden:
Mich selbst nur dann zu haben eigentlich,
wenn keine Weltanschauungsmären treiben,
ihr Deutungsmurren weicht vor Einsichts-Porten.
Das Zeitgeistunbewusste (237)19
Was hab ich nicht schon alles mitgemacht:
Sei es Charakterlosigkeit, sei’s Selbstruin,
Verrat auch, kalte Niedertracht.
Berechnung, die als Gut erschien.
Indes gewundert hat’s mich selten.
So ist der Mensch nun mal:
Will vieles haben, alles gelten,
Pleonexie verfügt, heißt: Lust und Macht und Zahl.
So kam es, wie es kommen musste:
Ich blieb für mich. Allein.
Betrachtete das Zeitgeistunbewusste:
In dem sich’s spiegelt, jenes Knechtsdasein.
Spekulationen (238)20
Ob es gelingen kann, sich abzufinden
mit einem Dasein ohne Sinn und Zwecke,
auf Lust und Nützlichkeit nur ausgelegt,
erregungskindisch wohlstandsknechtisch primitiv …
mit einem Dasein, fake-narzisstisch inszeniert
als Allverlassenheit, Vereinzelung und Deutungsleere?
Ich weiß es nicht,
doch könnte ich es durchaus denken mir
als eine digitale Diktatur:
KI-totalitäre Dauertyrannei …
Obgleich es wohl ganz anders kommen wird …
Als nackte Barbarei und Seelenöden-Schlächterei:
Globalkrieg aller gegen alle …
Und der dann bis zum bittren Ende:
Dem dieser doch so hochbegabten letzten Art.
Toren-Schicksal (239)21
Ist man jeder Einsicht bar,
bleibt die Tugend nur.
Die bestimmt dann, was sei wahr,
wird Gewissensschnur:
Wehe dem, der widerspricht,
wagt es, selbst zu denken.
Den wird treffen jener Sicht,
die man darf nicht kränken.
Nun denn: Wirklichkeitsverluste
sind das Los des Toren.
Lieber knabbert der die Kruste
als den Leid-Kern anzubohren.
Adiaphora-Welt (240)22
Dem Kollektivgebaren grenzenloser Mammongier,
den atheistischen Ergebnissen
mathematisch-experimenteller Naturwissenschaft
und den Vereinnahmungskniffen
digitaler Hochleistungstechnologie entsprechen,
abstraktexakt,
die juristische Fiktion einer Essenzwürde
des Menschen an sich
und die Aufklärungstugenden
von Gleichheit, Toleranz und Vernünftigkeit,
die sich in einer auf Dauer gestellten Wohllebensorgie
nur subjektivistisch, das heißt:
narzisstisch-identitätsdestruktiv realisieren lassen:
Als Zeitgeistbesagungslosigkeiten im Dienste
eines massiven Wirklichkeitsverlustes.
Und das bedeutet:
Ich, als Pleonexie höriger Organismus, bin gemeint:
die aus jeder Selbstverpflichtung entlassene Umsatzpotenz:
das überbeglückte Selbstding
in seiner schrankenlosen Verbraucherfreiheit,
sich selbst
zu verkaufen,
zu verwahrlosen,
gehen zu lassen,
sich aufzugeben,
zu verraten und demoralisieren zu dürfen
als hedonistisch-irrational infantilisiertes,
hyperempfindliches Sakralisierungs-Objekt des Marktes:
Der optimierungs- und perfektionslüsterne Erlebnisbüttel,
orientierungslos entlassen in die anonyme Leere
der nihilistischen Konsumdiktaturen …
ein totalitär entmündigter Jongleur von Phrasen-
und Selbstwert-Belanglosigkeiten,
geistig und sittlich entmächtigt …
gefühlssimpel vagabundierend durch eine
sich idolsüchtig selbst mystifizierende,
immer schneller zerfallende Adiaphora-Welt.
Stückwerk (241)23
Stückwerk wird’s gewesen sein.
Anderes war ausgeschlossen.
Lebt man doch in sich allein,
Perspektiven eingegossen.
Durch geplante Langeweile,
Selbstzerfall und Niedergänge,
kalkulierte Pseudo-Heile …
Psychen-, Geist-, Gewissens-Enge.
Immerhin: Ich hab’s begriffen
- glaube ich; doch stimmt das auch? -:
Tranceentlastungsformeln kiffen,
a priori Schall und Rauch.
Existenzunterholz/Sonett (242)24
Ob sich das Dasein unbedingt noch lohne,
das sei dahingestellt; ist schwer zu sagen.
Fakt ist, man ist verfügt globalen Lagen:
Sozialatom, Verbraucher, Spielball ohne
Vernunft und Mündigkeit und Würde-Krone.
Muss sich allein durch Abstraktionen tragen,
die man als digitaler Knecht muss wagen,
nicht ansatzweise wissend, wem man frone.
Man kann sein Leben selber nicht mehr führen.
Ist ausgesetzt selbst anonymen Mächten.
Kann keine Wirklichkeit mehr auch berühren,
zerbröselt zwischen Schein und Wortgefechten.
Man ahnt nur noch in Perspektiven-Schlieren,
dass wir uns halt- und gottlos längst verzechten.
Innenweltzersetzung II (243)25
Formel- und
verfahrensgesichert
korrumpiert
dieser technisch gestützte
Verflachungsklamauk
auch noch die letzten Reste
personal fundierter
Selbst-Abständigkeit.
Ekstatisch entmündigt,
verfallen die rauschlüsternen
Spätzeitsubjekte
popmusikalisch gesteuerter
Entfesselungsknechtschaft:
triebsiech,
kommandogeil,
effekthörig …
in Stumpfsinntrance sich selber los.
Entlastungsbedürftig seiner selbst entmächtigt/Sonett (244)26
Woran nur könnte man sich denn noch halten,
da alle Selbstverständlichkeiten wichen,
Subjekte durch des Zeitgeists Öden kriechen,
sich zu verdingen nihilistisch kalten
und spaßbrachialen Selbstgenussgewalten …
in aggressiver Anomie zu siechen,
die Kernzwang ist von marktdressierten Psychen,
nicht fähig mehr, sich selber zu gestalten?
An gar nichts mehr. Man ging sich selbst verloren.
Muss so trivialekstatisch sich vergeuden
- als sei zum Ramschweltbüttel man geboren -:
sich als Erlebnissammler selbst ausbeuten,
ergeben Kapital und Tugendforen,
die als Sakral-Lustpfleger einen deuten.
Was Freiheit sei (245)27
Machtausübung über sich,
Selbstzwang und Askese.
Überschreitung jenes Ich,
das, obwohl nicht gut, nicht böse,
neigt zu Hybris, Völlerei,
plump-banaler Selbstverklärung …
Das meint Freiheit: Dass man sei
mehr als atomarer Schwung,
mehr als Spaß- und Lust-Fanal,
Nutzen-, Geld- und Sach-Kalkül …
Kernverpflichtet Geist als Gral:
Nicht berührt von diesem Spiel
selbst sich frönender Monaden,
daseinstragisch doch verfügt,
sich so permanent zu schaden,
dass, wenn dieses Streben siegt,
Geist allein noch retten mag
sie vor ihrer Ich-Drangsal:
Geist - nicht Selbstmacht-Träumerei.
Würfelei (246)28
Ohne Zweifel bin ich,
was mein Wesen anbelangt,
ein gesegneter Mensch.
Ein Liebling
baryonischen* Stumpfsinns
und genetischer Blindheit.
Beiden,
gleich mehrfach bevorzugt,
wortvirtuos und geistgeborgen,
zufallsbegünstigt
aus der Verfügung entronnen.
*Baryonische Materie ist hier gemeint; die Materie,
aus der wir lückenlos bestehen
Asozialität, Abseitigkeit, Adipositas/Sonett (247)29
Gedenke dankbar all der Niederlagen,
des Spotts, der Häme und Zurücksetzungen …
dass manche Kinderschar auf meine Kosten
versuchte, johlend sich zu profilieren.
So war’s tatsächlich in den frühen Tagen,
da ich in jeder Hinsicht war gezwungen,
auch noch dem Dörflerabschaum zuzuprosten,
um menschlich mich nicht völlig zu verlieren.
Was heißt dann dankbar? Das muss ich erklären:
Ich hätt’s wohl nie geschafft, mich zu befreien
aus meinen Außenseiterpositionen,
wenn jene Leute nicht gewesen wären.
Die mich belehrten, niemals zu verzeihen
und abzuschwören allen Wertfiktionen.
Diktierte Selbstfindung (248)30
Auf dieser Top-Gewerbeleistungsschau
wird mir der Auftrag der Gesellschaft klar:
Quadrieren Sie sich im Kotau
vor Ihrem inneren Basar.
Ergraben Sie die Emotionen
demonstrativen Selbstkonsums.
Das wird Sie reich belohnen
als Träger-Ich existenziellen Booms.
So gilt es, sich zu optimieren
und zur Persönlichkeit zu reifen
als Körperkorrektur durch Operieren,
in fremden Blicken sich dann selbsterhöht zu greifen
als Zeitgeist kompatibles Element
- aseptisch, seicht, narzisstisch sich versunken -
Das willig sich dann Marktbefehl verbrennt,
von dessen Prägung in sich selbst gewunken.
Existenzielle Grundgegebenheiten/Sonett (249)31
Na ja, ich kann für mich allein nur reden.
Und ob ich richtig liege, wer will’s wissen?
Wir alle sind dem eignen Ich beflissen
und ziehen nur die uns genehmen Fäden.
Auch weil verdammt, uns selbst nur anzubeten,
uns selber nur zu lieben und zu küssen.
Verfall Geweihte, die das tun doch müssen,
nicht zu ersticken an den Daseinsgräten.
Indes wer will bewusst sich all das machen,
sich rational in seinem Sosein greifen:
Dass niemand da ist, über ihn zu wachen;
dass er aus Zwang muss vor sich selber kneifen.
Zu jeder Stunde Spielball doch von Sachen,
die ihn in Scheitern, Trug und Traumrausch schleifen.
(VIII) Dorf, Kindheit, Herkunft
Gottesackererinnerungen (250)32
Oft laufe ich die Gräberreihen ab.
Zu lesen Namen, Daten und „in Gott“.
In dem die Toten ruhten. So die Steine.
Dem sei wie immer auch.
Doch manches Bild formt sich mir dann
von jemand, den ich ganz gut kannte.
Und der mir Trost war in so mancher Stunde:
Er hatte mir ein liebes Wort gefunden.
Von wieder andern weiß ich noch das schlimme Los.
Sei’s Krankheit, Kriminalität, sei’s Schande.
Oft Alkohol. Zuweilen Selbstmord auch,
weil etwa eine Liebe in Verzweiflung trieb.
Auch sie doch Zeugen, dass es Lotterie,
Gewalt oft ist, dies Dasein, das wir fristen.
Von wenigen gemeistert. Vielen Scheitern,
enttäuschte Hoffnung, stille Bitterkeit.
Für meinen Vater - Eine trostlos deprimierende und gerade deshalb gütegetränkte Erinnerung (251)33
Die herbe Reval ohne Filter,
ein Röhrchen Dolviran,
ein Viertel Rotwein und Erinnerungen
an schöne Stunden an der Lahn.
Das alles half dann in der Regel,
das Schlimmste zu verhindern:
half Angst, den Gräuelwahn zu lindern,
die immer wieder fielen ihn doch an.
.
Von meinem Vater ist die Rede,
der jahrelang
durchs weite Russland zog.
Und dort auch blieb,
da seelisch schon verstorben,
als er noch Floskeln
heim nach Deutschland log.
Nebelverhangen (252)34
Ach diese milchig weißen Nebel,
die unvergleichlich sanft und unhörbar
sich, urvertraut mir, durch die Straßen wälzen,
erinnern mich an dich,
du schäbig-miese Pseudo-Heimat,
an deine Mauern, deine Psychen-Kälten,
an die mir zugeteilten Einsamkeiten,
mir radikal bedeutend eine Ausgeschlossenheit,
die nie mehr weichen sollte, es nicht konnte,
verinnerlicht von mir, sie scheinbar zu ertragen.
Doch trugen sie auch bei, zu überlassen mich
der Kraft des Geistigen, die vieles heilt:
Die eine Macht verleiht, auch Nebel zu durchdringen
und kleiner Seelen schlichtes Unvermögen,
sich selber aufzubrechen, zu begreifen
als Existenzgewebe, wabernd so dahin,
wie jene Nebel, die es nicht erlauben,
die Welt in ihrer Elendsschärfe klar zu sehen.
Dem Wind vorgetragen (253)35
Gedenke meiner, Wind,
wenn du einst
die Körner meiner Asche
über die todkranke Erde
treiben wirst,
fühllos diese wie jene …
Gedenke dann dessen,
der dich so geliebt hat,
dich jähen Gespielen
seiner trostlosen Kindertage.
Daseinsgefangenschaft (254)36
Von Kindheit an innerer Leere,
Halt- und Orientierungslosigkeit,
Angst und Gleichgültigkeit
und dem kommandierenden Grundgefühl
unüberbrückbaren Alleinseins unterworfen,
weiß ich
- drastisch angewiesen auf die Waffe
eines scharfen Verstandes,
auf irritabelsten Feinsinn
und krankhaftes Misstrauen,
auf Eingebungsvirtuosität
und die unbedingte Fähigkeit,
mir selbst realistische Einschätzungen
gewährleisten zu können -
um die engen Grenzen
menschlicher Möglichkeiten
gleich welcher Art …
intellektueller, geistiger,
ethischer, politischer …
Weiß ich
um die wesensträge
Pleonexie und Irrationalität,
Apathie und infantile
sei’s metaphysische,
sei’s ideologische,
sei’s tröstend emotionalisierende
und ritualisierende
Bedürftigkeit nach radikal
simplifizierenden Entlastungsschimären
meiner so vielen,
verängstigt-orientierungslosen Artgenossen.
Die auch deshalb unfähig sind
zu einer geistigen Verantwortung für sich selbst,
unfähig oder unwillig zu Begriff,
Selbstdistanz, existentieller Souveränität
und Wirklichkeitserfassung.
Unfähig, wie ich selbst auch.
Nur dass ich’s weiß.
Nur dass ich die Kraft habe,
mir schonungslos einzugestehen,
wer, was und wie ich kerntief bin:
Zeit, Angst, Verworfenheit …
Heteronome und durch und durch
bedeutungslose Materiemorphe.
Ratschlag I (255)37
Ein Schatten
drängt sich mir auf.
Einer der Frühe.
Ich lenke ihn um
in sich selbst.
Ratend ihm,
was ihn wirft,
zu vernichten.
Dorfschatten: nu-sublim -
Vor sechzig Jahren/Für A. P. (256)Variante I 38
Der toten Heimat Zustands-Schwere,
dem Stumpfsinn ihrer Trauer abzufühlen,
der Seelen- und Gesichter-Leere
und den bedrückend kühlen
Verbraucher-Einsamkeiten von Touristen,
Erlebnis-Zufuhr sich zu gönnen.
Gelernte Kaufrausch-Aktivisten,
die auch noch dann nur selber sich zerrönnen,
wenn meine Schwermut in die Gassen weinte,
dass du mir fehlst seit sechzig Jahren.
Als uns ein Augenblick vereinte,
so tief, sich kommandierend zu bewahren
als Sehnsuchtsscham in einem Treueschwur,
der wortlos war und markerschütternd,
kaum leises Handberühren nur,
im Traumsog des Kairos verzitternd.
Eine Lehre fürs ganze Leben (257)39
Ich war Müllabfuhrgebühreneintreiber,
Molkereikuli, Gasuhrenableser
und Straßenbaumalocher.
Ich war Zimmereigehilfe, Gelegenheitskoch
und Lagerarbeiter.
Sei’s dass ich als solcher lederne Häute
über einen Holzbock warf,
sei’s Schuhkartons auspackte
und in einem Regal verstaute.
Ich habe Teppiche, Medikamente
und Lebensmittel ausgefahren.
Ich habe Betonböden von Balkonen aufgehackt,
damit man sie mit einem neuen
Glattstrich versehen könne.
Um ein paar Mark zu verdienen.
Warum auch sonst?
Und nicht, dass es mir geschadet hätte.
Nein: Nie wieder war ich so frei wie damals:
Ein Unbeachteter all denen,
die stolz ihre geachtete Stellung herauskehrten.
Und gelernt hab ich auch was:
Nämlich was ein soziales Nichts sei,
das man noch verachtet,
wenn man ihm leutselig ein Trinkgeld
in die Hand drückt.
Aber auch dies: Dass mich nie
ein Intellektueller davon überzeugen würde,
dass - etwa - der Mensch gut sei,
nach Gerechtigkeit, Solidarität
und Humanität strebe …
überhaupt ein moralisches Wesen sei.
Das sind eitel versimpelnde Ideologeme.
zahmrhetorisch geeignete Groß-Phantasmen,
sich Phrasen gaukelnd eine Jüngerschaft
und täppische Bewunderer zu schaffen.
Dorfschatten/Für K. I. (258)40
Wer erinnerte sich noch an K. I.,
dies stille Mädchen?
Es ging an Krebs zugrunde,
kaum mal sechzehn Jahre alt.
Ich erinnere mich gut an es:
Wollte noch sein Dasein kosten,
dieses prall zu Ende leben.
Wenn’s ihm schon die Krankheit raubte.
Ließ sich gehen, ließ sich treiben,
Sex- und Suff-Lust hingegeben:
Gierroh vor Verzweiflungslast.
Angstgetrieben sich verrohend.
Konnte ich ihm das verdenken?
Sicher nicht. Zumal ich lernte,
dass, wer vor den Tod hintritt,
wahllos noch genommen werden,
Gram und Trauer dunkeln will,
bis ihn hole jener.
Dorfschatten/Für F. U. (259)41
Deine Augen verrieten dich mir:
Manchmal lag Verzweiflung in ihnen,
manchmal Hilflosigkeit,
manchmal diese mir nur allzu vertraute
archaische Angst
vor diesem fühllos faden Menschentum.
Immer aber jene
still aufreibende Resignation,
der man auch noch
in scheinbar glücklichen Momenten
ausweglos unterliegt,
wissend um ihre Täuschungskraft.
Du ahntest wohl, dass du, daseinsunfähig,
keinerlei Widerstandskraft
würdest aufbringen können
gegen deine dich unaufhaltsam zerstörende,
tief bedrückende Melancholie.
Dass man dich,
den dauerbetrunkenen Obdachlosen,
dann eines Tages tot in einem Park auffand,
das hat mich nicht sonderlich überrascht,
als ich es erfuhr.
Ich habe dich gern gehabt, Fritz,
musstest du doch etwas begriffen haben,
was nur die feineren Naturen
zu erfassen fähig sind:
Die kommandierende Nichtigkeit,
Kälte und Rohheit der menschlichen Existenz.
Wind der Frühe (260)42
Wenn er über das Land wehte,
den Sand des Feldweges aufwirbelte,
durch die Ähren der Kornfelder fuhr,
die Äste der Obstbäume hin und her bog,
pfiff, wehklagte, aufheulte, der Wind,
dann ließ auch ich mich
fortziehen von ihm,
weit weg in ein Traumland,
meiner Sehnsucht gewogen,
meiner Angst eine Grenze,
meiner Weltflucht ein Hort.
Zumal er mit sich führte
die Glockenklänge der Dorfkirche,
die seine unberechenbare Wendigkeit,
akustisch weggefangen hatte,
um sie hinauf zu tragen
in den blauen Himmel,
in jenes Traumland auch,
wo ich zitternd hoffte,
dass der Daimon käme,
mich mitzunehmen,
weit hinaus über diese öde,
kalte und unselige Menschenwelt.
Von der ich längst
zu viel begriffen hatte,
als dass ich sie noch
ohne Verzauberungsschübe
und metaphysische Illusionen
hätte ertragen können.
SMS (64)/Phantasmagorie II (261)43
Irgendwoher,
mir vertraut
seit frühesten Tagen,
vernehme ich
das Wispern Gottes
im Schrei seiner Schwester:
Der
in uns und als wir
immer
ins Ungefähre
kreißenden,
bewusstlosen,
sich selbst
organisierenden Materie.
*SMS = Stadtmauersteine (oder andere zusammengesetzte Substantive wie etwa Seicht-Magie-Sause), mit denen ich mich als Kind oft unterhielt.
Dorfschatten/An R. E. (262)44
Du warst ein ziemlich
kaltes Luder.
Und eine gute Mimin
warst du auch.
Gedenke deiner,
weil ich von dir lernte,
wie dumm man ist,
wenn man ein Luder liebt,
naiv und arglos
sich ihm anvertraut.
Indes man lernt zuletzt am besten
von den Gemeinen und den Kalten
wie selbstzerstörerisch
kann sein Vertrauen.
Dorfschatten/Für A. P. (263)45
Du lebst nicht mehr.
Ich hörte es.
Du, ferner Kindheit
Zartgebet.
Ich hielt dich einst
an Dämmertagen
so scheu beglückt
an meiner Hand.
Und schick dir nun
ins nasse Grab
das Menschlichste,
was ich noch habe:
Ein letztes Tränenpaar
aus meinen kalten,
so weltschroff spöttisch
mitleidlosen Augen.
Für Reesi - Meine erste Katze in den frühen 1950er Jahren (264)46
Dass du mir erlaubtest,
deine neugeborenen Kinder sanft zu berühren,
dass du mir, Reesi,
ein gleichsam zwischenartliches Vertrauen entgegenbrachtest,
indem du schnurrend in meinen Kinderarmen einschliefst,
wenn wach,
deine Pfoten abwechselnd auf meine Brust drücktest,
nie dich vor mir erschrecktest,
auch dann nicht,
wenn ich, kindlich-linkisch, mich zu hastig bewegte.
Das alles, Reesi,
habe ich bis heute nicht vergessen,
sehe dich noch deutlich vor mir,
rotweiße Felidin,
möchte dich,
hilflos vor Sehnsucht nach dir greifend,
aus dem Nichts rauben,
auf dass du mir wieder Gefährtin seiest alle Tage.
So dass mir diese wieder ein kleines,
unüberbietbares Glück schenkten.
Durch dich, Reesi,
du liebe Geberin kreatürlicher Zartheit
und seit Jahrzehnten
Mithüterin meiner geistigen Existenz.
Bilanzgedicht (19)/An die toten Eltern (265)47
So ungreifbar, so fremd geworden.
Falls je Vertrautheit war.
Sie war ja nicht. Nicht mal in Worten.
Nicht einmal mittelbar.
Ich reiße euch aus Hass und Schweigen.
Das kann so ein Gedicht.
Nur ihm ist diese Kraft zu eigen,
nicht anzurufen ein Gericht …
sich selbst durch Sand und Nichts zu tragen,
verwandelnd Wut und Leere,
Versöhnung aus dem Grund zu nagen,
vorbei an seelischer Misere.
Erinnerung an meinen Vater (266)48
Die meisten zählen nichts.
Ein Grundfaktum.
Nur Auswurf eines Stoffgerichts,
entzweckungslüstern stumm.
Die bleiben auf der Strecke,
herumgestoßen ausgebeutet,
sind Abschaum unten.
Oben Machtspielzwecke.
In Gossendreck gedeutet.
Mein Vater kommt mir in den Sinn.
Der war so einer:
Stob tief verachtet hin.
Zerfiel als Wert-
und Halt-Verneiner.
Für meinen Vater (267)49
An dich denke ich, Vater,
haltlos von Schweigen
und Hilflosigkeit
hin und her geworfen
angesichts deines
armseligen Lebens,
angesichts von Verhältnissen,
mit denen du
nicht fertig werden konntest,
vor denen du
versagen musstest:
Armut,
soziale Deklassierung,
Orientierungslosigkeit,
Krieg, Gefangenschaft …
So tagtäglich
dem Hochmut und der Verachtung
derer ausgesetzt,
die rücksichtslos
über dich verfügten:
Großbauern,
Bürger,
Despoten,
Lagerwachen,
Vorgesetzte,
Manager,
Aktionäre.
*
Ich werde immer wieder an dich denken,
weil du doch in mir fortlebst noch.
Als Seelenbrösel, die mich lenken
auf dieses surreale Joch.
Dass es sich immer als Gewalt auch zeige,
als Scheitern und Entlastungsposse,
sich Hass, Verblendung, Machtsucht neige …
Gewirre einer Tranceweltgosse.
All das war deine Existenz,
die mich das alles gründlich lehrte.
Das Dasein muss so sein: Betrugs-Potenz
als unlesbare Fährte.
Einsamkeit (268)50/Zu vergleichen sind die Gedichte (1938, S. 33) und (3124, S. 60)
Die Menschen leiden schwer an ihr.
Sie sucht sie heim in ihrem Wesen.
Sie sehnen sich nach einem fremden Ich,
sie brauchen dringend auch das Wir.
Mir ist sie eher Schutz gewesen.
Ein Schutz vor Häme und vor Niedertracht.
Weshalb ich lernte, anders sie zu lesen:
Als einen Zustand eigner Macht.
Befreiend mich von Artgenossen,
war sie nur selten eine Last.
Hat sie mich doch geschützt und abgeschlossen,
geschenkt mir stille Rast.
Inzwischen ist sie mir weit lieber
als mancher Austausch mit Gesellschaftsgrößen:
Vermitteln die mir doch das Zeitgeistfieber,
das einen Oberflächlichkeit will lösen.
Meiner Großmutter Margarethe S. zugeeignet (269)51
Ich habe sie nicht gekannt,
diese Großmutter;
weiß nur,
dass sie 13 Kinder zur Welt brachte;
dass ihr Mann regelmäßig
das Haushaltsgeld versoff
und sie oft nicht wusste,
wie sie all die hungrigen Mäuler
würde stopfen können.
Auf der einzigen Photographie,
die ich von ihr besitze,
erkenne ich ein breites,
massiges und
starkknochiges Gesicht,
ein trauerübersätes,
beherrscht von einem Ausdruck
resignierter Hilflosigkeit,
zugleich gekennzeichnet aber auch
von widerspenstigem Trotz,
rohem Lebensmut
und einer kargen,
unsentimentalen,
fast kalten Härte.
Weiß ansonsten nicht so recht,
was ich sagen soll
zu diesem Leben voller Entbehrung,
Aufopferung,
Verachtung und
verfügter Unbarmherzigkeit.
Es wäre auch sinnlos,
eitel zumal,
ergäbe ich mich angesichts ihrer Misere
irgendwelchen Sentimentalitäten,
Betroffenheitsritualen
und Mitleidsbezeigungen.
Hätte sie sowieso nicht verstanden,
diese Großmutter,
mir wohl wenigstens darin wesensverwandt,
dass auch für mich solche Gemütsergüsse
letztlich von Haltlosigkeit,
Mitgefühls-Hybris,
Unverständnis
und würdeloser Verlogenheit zeugen.
Erinnerung an stumme Liebenswürdigkeiten/Sonett (270)52
Mehr gab es nicht als ein paar stumme Blicke,
die sich per Zufall manchmal mir gewährten.
momenthaft menschlich ohne dies Entwerten
wie es in Augen aufblitzt voller Tücke.
Die Trance verwoben, schenkten kleine Glücke,
die sich mir nie, trotz meiner Neugier, klärten,
so ganz naive, die sich schon entschwerten,
bevor sie trafen auf Normalgeschicke.
Wer die Erinnerung an solche Weisen
von stummer Sehnsucht hegt und ihrer Wende,
dem werden sie auch spät noch Sinn beweisen.
Der wird sie spüren als die Seelenbrände,
die aufrecht halten im absurden Kreisen
um die Miseren dieser Daseinsblende.
De mortuis nihil nisi bene? (271)53
(Ü: Über die Toten nichts (sagen), es sei denn Gutes)
Die Reihe der Gräber ist lang geworden.
Fast alle, die hier liegen, kannte ich.
Zum Beispiel den hier, dem der Schnaps die Leber
und seine Rohheit selbst ihn mit zerfraß.
Und die: Was war die menschlich jämmerlich.
Gemeinheit geifernd, Gier und Niedrigkeit.
De mortuis nihil … Ja, gewiss.
Allein ich habe vieles nicht vergessen.
Und will auch nicht. Auch nicht verzeihen.
Nicht fähig, diesen Toten zu vergeben.
War’s doch nicht nötig, mir was anzutun,
was mich ins Mark traf. Unvergesslich bleibt.
Grad weil es keinen Grund gab zu erniedrigen.
Getriebene, ich weiß. Wahrscheinlich selber Opfer.
Auch das indes soll mir nicht Anlass sein,
den Hass zu zügeln. Er soll Einsicht schlagen.
Warum soll ich Gemeinheit überwinden,
die ihre, wie die meine auch?
Der Menschenliebe etwa zum Gefallen?
Wenn Rachsucht doch allein die wunde Psyche wärmt.
Und Güte sich als Dummheit stets erweist,
erweisen muss, weil doch die Tyche* selten sie verlost,
auch wenn wir manchmal sie so tief uns wünschen.
*Tyche greich: Zufall, Glück. Die Göttin derselben
So Dinge (272)54
Es gibt so Dinge,
die man nie los wird.
Auch weil man sie
nicht greifen kann.
Weil dieser Wahn
von Daseinsgrund
in ihnen girrt:
Als selbstzerstörerisch
verfügter Seelen-Bann.
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