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Diese Seite enthält 59 Gedichte (50 Prosa-, Reim-Gedichte, 3 Terzinen und 6 Sonette)

3 Terzinen - Gesteuerte Existenz (2229)1

Was mag das heißen: leben, wenn die Gegenwart 
zugleich als Zukunft und Vergangenheit
in Wiederholungsdespotie erstarrt,
wenn jeder jedem gleich auf sich nur stiert
und Leere macht sich über allem breit,
sodass sie niemand mehr als Leere spürt?
Man soll die eigne Existenz verorten,
Erlebnissplittern hörig fadster Zeit
und Starkult sich und Apathie einhorden -
Ein Exemplar von Kapitalmonaden,
die sich verschwenden Artefakten-Sorten
und nur noch steigern die Verkommens-Raten,
entseelt gehorchend Marktkommandodaten.

(2230)2

Es heißt, dass man sich weiht der Religion
des Kapitals und seinen Heilsversprechen
von Brot und Spielen, Lust und Wohlstandsmohn,
sich effizient und nützlich zu verbrauchen
und zu ergattern so den höchsten Lohn:
in essentiellen Ich-Rausch einzutauchen,
wie, etwa, liegen an Erlösungsstränden,
wo man Vollendung döst als Medienklon,
imaginär sich frisst in Schundlegenden,
die einem cool die Ziele offenbaren:
in Gossenhimmeln selig sich zu schänden,
sodass man grade so sich mag bewahren -
begrifflos trudelnd Katastrophenwenden.

(2231)3

Es heißt gewiss nicht, sich sich selbst zu stellen,
um als bedeutungslos sich zu erfassen
im Hyperraum globaler Geldstromwellen,
die anonym die Psychen deklassieren
zu ihrer selbst beraubten Gleichlaufmassen,
verbrauchsekstatisch sich zu delirieren
in infantile Wirklichkeitsverluste
und Farce und Kult und Gier nach Selbstnegieren:
Das amygdal* forcierte Unbewusste.
So macht der Stumpfsinn, dass man ihm verschworen,
sich weihe einer objektiven Kruste:
dem Markt, durch den geläutert neu geboren 
man dann im Bann döst technischer Pandoren.

*Terzine: ursprünglich italienische Strophen (in Kettenreimen aneinandergereiht) aus drei elfsilbigen Versen  

*Amygdala: Zentrum des limbischen System des menschlichen Gehirns. „Diese Zentren sind Orte der Entstehung von Affekten, von … negativen Gefühlen (Amygdala) …“ (Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln s. Fremdwörterverzeichnis). Amygdala: Mandelkern

Zeitgeist III (2232)4
(11/632), (25/1529), (48/2391) und (73/3935)

Man ist, Systemspielball, doch faktisch mittellos.
Sei es sozial, sei‘s kulturell. 
Für uns ist längst der Zeitgeist Floß.
Und der entmächtigt schnell.

Viel schneller, als man’s merken kann.
Zumal er unaufhörlich bohrt.
Mit Stars, Verführung und mit Dauer-Fun,
das Limbische System umflort.

Und man tut gut daran, sich hinzugeben
den Lockungen und Illusionen,
die jener dauernd hoch lässt leben,
um sich mit Gram und Hellsicht zu verschonen.

Oberflächenfern (2233)5

Wer wagte es, von Schuld zu faseln,
von Freiheit, Glück und von Gelingen,
Recht, Würde und von Menschenliebe,
von Ehrfurcht, Güte, Anstand, Scham?
Vor meinem Ohr gar, diesem eigensinnigen,,
nach innen horchend und sehr tief.
Dort, wo die Echos unsres Wesens hallen,
verkommenheitserfüllt ihn zu verbergen:
Den Ich-Gott, der sich werttaub stellt,
sich selbst so nur noch lustsiech anzumurmeln,
sich in den Staub zu werfen vor des Wohlstands Zelt.

Nach Mitternacht (2234)6

Tiefe Stille,
nachtvergoren:
Weder Stimmen 
noch Motoren:
Letzte tranceabstrakte Hülle,
schützend vor den 
Matadoren
des Geschwätzes,
der Reklame,
des Getues,
Übertreibens,
des Entfesselns
stummer Leeren,
kompensierend 
Selbstverluste
durch versiertes
Sich-Verfehlen.

Nichts davon (2235)7

Keine psychischen Halte.
Kein individueller Wille zur Selbstrelativierung.
Keine gesellschaftliche Gerechtigkeit.
Keine politische Begabung.

Kein Glückszuwachs durch Wohlstandssteigerung.
Keine Widerständigkeit gegen kulturelle Barbarei.
Keine Einsicht in die Selbstdestruktionskraft des Kapitalismus.
Keine geistige Verankerung der Eliten.

Nichts davon kann ich erkennen; 
gar nichts.
Allenfalls die all-faden,
sich weiter verstärkenden Perversionen.

Zumal auch gleich blieb
dieses Verlangen nach Verzückungsorgien,
Entlastungsekstasen und inbrünstigem Verschmelzen
mit gossenmessianischem Star-Stumpfsinn.

Andere (2236)8

Körper.
Seelenlasten.
Feindhirne.

Entlastungschancen.
Trostgefüge.
Haltgaranten.

Spiegel.
Todesboten.
Sinnzerstörer. 

Sinnfetzen/Sonett (2237)9

Du, Tausendschönchen, warst mir faktisch alles,
wenn ich Alleinsein auf den Feldweg schwitzte,
auf Gras und Erde fiebernd Namen ritzte,
ganz hilflos ob des Herkunftsweltzerfalles.

Noch abends durch den Kesseldampf des Stalles,
wo ich der Schweine harten Fraß erhitzte,
sah ich dein Bild, das mir als Trost aufblitzte,
wenn mich ein Laut traf bleiernen Gelalles.

Doch nicht nur Einsamkeit warst du ein Schnitter:
Du ließt mich Scham vergessen und Exzesse,
zerschlagend mir manch enge Daseins- Gitter

von zynisch-ordinärer Seelenblässe …
Warn auch die Wurzellosigkeiten bitter,
dein Bild ließ trocknen meiner Augen Nässe.

Selbstversäumen (2238)10

Nach all den Jahrzehnten sehe ich,
deutlich wie nie,
dass schon im Anfang das Scheitern bereit lag,
schon in der frühen Kindheit alles auf Rand wies,
Alleinsein und das Fingieren von Entlastungs-Surrogaten.
Nicht, dass ich es so gewollt hätte.
Nicht, dass es von irgendjemandem
so gewollt worden wäre.

Traumwandlerisch gleichsam gleitet man,
als ob da eine Notwendigkeit diktiere, 
vorbei an Du und Wir,
um sich am Ende in all den selbst- 
wie fremd-gewirkten Wahnverknüpfungen
einer von niemand schuldhaft zu verantwortenden Existenz
noch einmal kraft- und alternativlos
selbst zu versäumen.

Psychische Gefangenschaft (2239)11

Niemals entkommt man 
den andern, 
niemals folglich sich selbst.
Stehn jene Spalier doch,
anonym einen steuernd
auf jeder Höhe, in jeder Tiefe 
der eigenen Psyche;
sie, die Seelenschatten,
die ganz früh schon
gekannter Personen,
deren Bilder, Worte 
und Taten, unermüdlich 
einen formen und mitlenken,
und einen so auch daran hindern,
ihnen je vollständig
entrinnen zu können -
oder auch nur zu wollen.

Pseudoromantisches Gedicht (2240)12

Sehnsucht hab ich keine mehr;
wüsste nicht, wonach.
Sind doch viele Seelen leer:
liegen gleichgeschaltet brach.

Weiß zumal ja auch, warum:
Fort sind alle Daseinsfreuden,
Glücke fad und grau und stumm:
weil Sich-Selbst-Vergeuden.

Einsamkeit sich zu ergeben;
jener tiefen: ausweglosen,
die man muss sich ja erstreben,
nur peerfekt sich selbst zu kosen.

Kundenschicksal ist das doch:
Man versinkt in sich.
Stöhnt des Zeitgeists Lüste-Joch,
kreisend nur ums eigne Ich.

Anfang (2241)13

Sie wispern immer noch, die Steine.
Und immer noch dieselben Worte:
Es gibt kein Glück im Wir, es gibt nur eine
verängstigt kindische Phantasten-Horde

von Artgenossen, die in sich,
in ihren undeutbaren Trancen kleben,
Monaden - jede nennt sich freies Ich -
obwohl doch Mammon-Mythen sie verschweben;

sich, schuldlos, selber ruinieren,
sei’s Illusionen, sei es Massen-Kuren,
Pleonexie und ihren Zeitgeist-Lyren
ihr angekauftes Selbst verhuren.

Kindheitstagedoppeldeutigkeit (2242)14

Mittelalterlich vermauertes Nest,
ganz nahe der pfälzischen Weinstraße,
das so genannte Heimatdorf.
Heimat? 
Wenn Ausgrenzung, Gewalt,
Heuchelei, Niedertracht, 
Suff und Gier
zu Heimat gehören, 
dann gewiss.

War aber auch anderes,
was diesen Menschenbettel wettmachte.
Winzigkeiten,
still, schön, zart 
und so für Augenblicke
alle Rohheit und alle Gemeinheit
wett machend.

So wirft sich mir immer noch 
jener erdverliebte weiße Flieder entgegen,
eines von Gottes vielgestaltigen Selbsten, 
winseln immer noch 
die hechelnden Nachbarshunde darum, 
von ihrem Wesen weggestreichelt zu werden,
streichen mir immer noch 
schnurrende Katzen um die Beine,
mythische Tiere von ägyptischer Wesenstiefe,
wärmt mich immer noch 
Annis grobschlächtig auf menschliche Wärme verweisender Trostkörper,
branden immer noch 
Wellen von Bläuen auf mich herab,
hochreißend in materietrunkene Absolutheit,
umrauschen immer noch alkyonische Tage 
meine vollendete Teilnahmslosigkeit.

*alkyonisch = friedlich, windstill; Tage glücklicher Ruhe

Orientierungslosigkeit (2243)15

Stumpfsinn, Angst und Aggressionen
fühle ich den Menschen ab;
in den Straßen, auf den Plätzen,
wo auch immer sonst;
glücklos sind sie, allbefangen,
psychisch einsam und verzwergt,
eingelullt von Wohlstandsmythen,
faktisch ihrer selbst benommen,
ausgeliefert einem Sein,
substanziell verneinungsträchtig,
weil’s verdinglicht und verführt.
Dem verraten sie sich selbst:
bringen sie sich selber dar:
resignierte Trance-Personen, 
eingelassen Faktenwelten,
die sie allenfalls erleben,
aber nicht zugleich erfahren …
Auch weil medienmagisch 
doch gesteuert.

Evolutionsknechtschaft (2244)16

Was für eine Armseligkeit,
anderen gefallen und imponieren zu müssen,
zwanghaft witzelnd, schmeichelnd, täuschend, lügend …

Was für eine Unselbständigkeit,
sich jeglichem Gruppendruck widerstandslos zu unterwerfen,
bis hin zum Aufopfern eigenen Denkens, Wollens und Fühlens …

Was für eine beschämende Selbsterniedrigung,
liebedienerisch vor Geld, Macht und Prestige zu kuschen,
wühlend nach Eingebundenheit in entlastende Hierarchien …

Was für eine deklassierende Unmündigkeit
im Nachäffen von expressivem Stargehabe
und überhaupt diesem kapitalgeförderten präskriptiven Optimismus …

Indes: Was hier zu kritisieren, gar zu verdammen, erfreche ich mich?
Weiß ich doch genau, dass wir so sind; ja: sein müssen.
Da objektivieren sich 2,5 Millionen Jahre Homo-Evolution,
betreffend eine biologische Gattung 
von Technikern, Täuschern und Fiktionen-Demiurgen.
Hirnhypertroph, Natur umschaffend, sich selbst ummodelnd:
Psychisch, ethisch, kulturell.

Kratische Mittellosigkeit (38/2245)17

Sie können’s nicht, Parteienmacht-Trabanten.
Es fehlen alle Grundbegriffe:
Die ethisch-geistigen Charakter-Schliffe,
für die doch stets nur große Seelen brannten:

Die, die sich Mittelmäßigkeit entwanden,
die niemals setzten auf Betrug und Kniffe,
verstummen ließen ihrer Neider Pfiffe,
zumal sie Halt in Geistmacht fanden.

Was also kann man fordern, kritisieren,
ja überhaupt erhoffen noch?
Nun: Allenfalls Rhetorik-Schlieren,
die Schatten als die Dinge selbst ausrufen.

Ansonsten nach Applaus und Privilegien gieren,
wie Ichgefangne sie sich immer schufen,
diktiert von ihrem Selbstwert-Joch.

Doch niemand sei es vorgeworfen … (2246)18

Ideale hat man nötig, 
braucht sie,
selbst sich zu bestehen;
braucht sie stets
als Lebenslügen,
Selbstbetrug und Illusionen.
Um sich selber 
zu verschonen,
sich erfolgreich zu betrügen;
um sich nicht 
als das zu sehen,
was man sein wird, war und ist: 
Ohnmacht, Drangsal,
Rausch, Vergehen,
Opfer auch 
von Macht und List:
Allprekäres Trance-Geschehen:
Einsamkeit und schiere Frist,
deutungslos entlastungsstetig.

Nicht fassbare Abende (2247)19

Abende gibt’s,
für die man
keine Worte findet;
so inhaltslos
und reizabweisend
zwingen sie einen
in ein drogengestütztes 
Nirgends,
heraus phantasiert
aus entlastender 
Gleichgültigkeit.

Wir II (2248)20
Vergleiche (34/2044) und (66/3473)

Biosoziale Monaden:
Materiegebilde,
währenden Existenzkämpfen
hilflos ausgesetzt.
Daseins-Zufälle,
determinierte,
radikal sinnlos
existierend.

Und ohne alle
Geisteskraft,
daraus politisch 
wirtschaftlich und 
gesellschaftlich 
die Schlüsse zu ziehen,
die uns vielleicht 
befähigten, jene objektiven 
Gegebenheiten 
als Chance für uns 
zu begreifen.

Freilich nicht 
als intellektuelle Utopien:
wortleere Entwürfe,
religiöse oder 
weltliche Ideale,
notwendig einhergehend 
mit einer Ethik
eben biosozialer Monaden:
phrasenabstrakt; 
und daher
notwendig umschlagend 
in Gewalt und Barbarei.  

Oberflächen-Dasein (2249)21

Viel weiß ich
nicht zu sagen.
Die Kerne besonders
verweigern sich.

Das Ganze (2250)22

Bedürfnis-, Trieb-, 
Gesellschafts-Drill:
Zwänge, um sich 
zu behaupten:
Nötig, 
um sich zu gelingen,
grad weil treu dann
auch Geglaubtem …
Dass man könne
durch sich ringen …
Bis es dann wird
ganz, ganz still
um den seiner Kraft
Beraubten,
weil‘s der Lauf 
nun mal so will.

Der Sehnsuchts-Schemen (2251)23

Mich hat ja diese kalt-abstrakte,
so wertfrigide Welt geprägt
bis in die tiefsten Seelen-Takte.
Entriss sie mir doch unentwegt

all die Verzauberungs-Momente,
mich aus ihr weit herauszuführen
bis hin in Gottes Sinngelände,
um dort mich geistig zu berühren.

Und ich-erlöst auch zu erahnen
die Wogen von Geborgenheiten:
Wie sie doch nur Ideen bahnen,
die über all das hier hinaus uns leiten.

Indes ich durfte ihn bewahren,
den rational entlarvten Sehnsuchtsschemen:
und so mich gar mir selbst ersparen …
mir meine Nichtigkeit verbrämen.

Erinnerungen an Karl Marx(1)/Sonett (2252)24

Den großen Hort der Ideale brauchen wir,
uns zu entlasten von uns selbst und dieser Welt:
Der Existenz, die wir vollziehen als ein Tier,
prekär bedroht, weil ständig von uns selbst umstellt.

Doch Ideale umzusetzen hindert Gier,
flankiert von Kämpfen, die nur Macht dann niederhält.
Zumal uns selbst wir müssen ständig stehn Spalier.
Was Ehre uns, Bedeutung, Würde auch erhält.

Dass indes gütig sei der Mensch in seinem Wesen,
sich nicht entfremdet, werde endlich sich befreien
aus Feindschaft, Herrschaft, aller Menschheits-Übel Not*,

das sind Prophetenträume nur: sind Hoffnungs-Thesen,
die jedes Ideal sofort dem Schweigen weihen,
weil es die Wirklichkeit doch ließe ohne Lot.

*Ich verweise auf den Einband (hintere Seite) der Ausgabe der Philosophischen Bibliothek Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Meiner-Verlag, Hamburg, 2005,  herausgegeben von Barbara Zehnpfennig, wo zu lesen steht:
„In dieser frühen Schrift, …, legt Marx in später nicht wiederholter Offenheit die Grundlagen seines Denkens bloß: Der Mensch ist Teil eines Heilgeschehens, das des Durchgangs durch das Unheil bedarf, um ihn erlösen zu können. In den ökonomischen Verhältnissen spiegelt sich der Stand jedes Prozesses wider. Am Ende der Geschichte ist der Mensch aller ihn bedrängenden Übel ledig: der Not und der Feindschaft, der Gier und der Herrschaft. Vor allem aber braucht er keinen Gott mehr, denn er selbst ist an dessen Stelle getreten - als Schöpfer der Natur, als Schöpfer seiner selbst und als Überwinder seiner Endlichkeit in der Grenzenlosigkeit des menschlichen Gattungslebens.“ (Hervorhebungen von mir, Sa.) 

Mit Verlaub: Das ist absurd, so weltfremd, konstruiert-schematisch irreführend, falsch, ja: so naiv, dass ich es nicht kommentieren möchte. 

Dazu auch J. A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie (UTB 172, 1980, S. 19):
(1) Marx war ein Prophet
(2) Der Marxismus ist eine Religion 
(a) Er bietet „ein System von letzten Zielen“      
(b) enthaltend einen Sinn des Lebens
(c) er bietet absolute Maßstäbe, „nach welchen                   Ereignisse und Taten beurteilt werden können
(d) Er, der Marxismus, bietet sich zugleich als Führer zu jenen Zielen, „er bietet einen Erlösungsplan“ und vermag 
(e) das Übel aufzudecken, von dem die Menschheit oder ein auserwählter Teil derselben erlöst werden soll; und 
(f) „der sozialistische Marxismus gehört auch zu jener Gruppe, die das Paradies schon für diese Seite des Grabes verspricht.“ „nämlich das irdische Paradies der Sozialismus“

Nun ja: Der Mensch ist idealbedürftig, aber nicht idealfähig; und er hat immmer die Ideale, die er nötig hat, die also zu leben, er in der Regel unfähig ist; das erscheint mir, Sa., durchgängig der Fall zu sein.

Ideal und Barbarei (2) (2253)25

Dass Ideal und Barbarei Geschwister sind,
das kann man vom Marxismus lernen:
Ist der doch Heilsversprechen, drastisch faktenblind:
Geplantes Scheitern, angelegt in seinen Kernen.

Denn dass des Menschen Wesen Güte sei*,
er Sitte, Anstand, Maß und Mitte in sich trage -
zumal wenn von Besitz und Staatsmacht, heißt:
wenn von Entfremdung frei -
verfehlt entschieden seine Lage.

Sich selber ausgesetzt als Kreatur:
bedürftig, selbstisch, triebgefangen,
sich selbst und Artgenossen Macht-Tortur
in einem Dasein hochprekärer Zufalls-Zangen,

ist zur Vollendung fähig er mitnichten.
Es kann ihm immer um sich selbst nur gehen,
sich Lust und Halt und Trance zu lichten,
um so sich Sinnschimären hinzusäen.

*(I) Das (utopisierende) Menschenbild von Karl Marx als Grundlage seiner ökonomisch-politisch-kulturellen Theorie des Kommunismus

(1) Marx kam es ursprünglich an auf: die Überwindung der Diskrepanz zwischen 
(a) dem Wesen des Menschen als einem 
(b) schöpferischen
(c) naturbeherrschenden
(d) reichen
(e) allseitigen Wesen (ein Wesen, das gut ist und moralisch vollendet) und der realen Existenz aller einzelnen Individuen in der modernen kapitalistischen Gesellschaft, in der die Individuen gezwungen sind, ein Leben zu führen, das sie
(f) als von Natur aus gütige und moralisch perfekte Wesen unterdrückt und 
(g) sie so zu von sich selbst (von ihrer eigenen Natur) entfremdeten Menschen macht.

Anders gesagt: Es ging Marx um 
(2) eine Gemeinschaft brüderlich verbundener Individuen in einer kommunistischen Gesellschaft
(3) um die Freiheit, Selbstentfaltung und Selbstverfügung dieser Individuen, soll heißen - noch einmal - um die Wiederherstellung der natürlichen Güte und moralischen Vollendung dieser Individuen. Denn, so Marx - noch mal -:
(4) Die Menschen seien von Natur aus gut: Alle feindseligen Regungen ihrer Herzen rührten nur aus der schlechten Verfassung ihrer sozialen Beziehungen her (so auch schon J. J. Rousseau: „Les hommes sont méchants; une triste et continuelle expérience dispense de la preuve. Cependant, l’homme est naturellement bon, je crois l’avoir démontré (S. 111) … Il est clair qu’il faut mettre aussi sur le compte de la propriété établie, et par conséquent de la société, les assasinats, les empoisonnements, les vols de grands chemin  … (S. 118). Ü, Sa.: "Die Menschen sind böse/schlecht; das ist eine durchgehende traurige/trostlose Erfahrung. Jedoch ist der Mensch von Natur aus gut; das glaube ich gezeigt/bewiesen zu haben. Klar ist auch, dass man der Institution des Eigentums, und folglich der Gesellschaft selbst, die Mordtaten, die Vergiftungen, die Überfälle auf den großen Routen anlasten muss." D. h. an dem, was das Individuum an Verbrechen begeht, ist die Gesellschaft schuld … was aber, glaube ich, Sa.,  falsch ist.
(5) Also müsste sich - folgert Marx - in einer vollständig vernünftig organisierten klassenlosen kommunistischen Gesellschaft diese reine und ursprüngliche Natur des Menschen wieder entfalten können und eine moralische Normierung seines, des Menschen, Verhaltens überflüssig machen (z. B. staatlicherseits)
(6) Für Marx bedeuten alle moralischen Forderungen, die an den einzelnen von außen gerichtet werden und die er selbst zu übernehmen mehr oder weniger gezwungen ist, Einschränkungen seiner Freiheit, Fesseln, die in einer vollendeten klassen- und herrschaftslosen (der Staat ist überflüssig geworden, weil es seiner gesellschaftsstabilisierenden Macht nicht mehr bedarf) Gesellschaft offenbar verschwinden sollen; kurzum es ging Marx
(7) um die Wiederherstellung des ursprünglichen in jeder Hinsicht guten und von Natur aus moralisch vollendeten Menschen in der kommunistischen Gesellschaft:
(a) in der das Privateigentum abgeschafft wäre 
(b) und der Staat als die Individuen gängelndes Machtgefüge nicht mehr bestünde
(8) Daraus folgt: Alle nicht kommunistischen Gesellschaften sind notwendig despotisch-amoralisch-repressive Gesellschaften sich selbst entfremdeter, ihrer Natur entfremdeter Individuen
(9) Entfremdung
Griech.: ἀλλoτριότης/ἀλλoτρίωσις (= allotriosis): Fremdheit, Entfremdung; aus dem griech. NT von Martin Luther ins Neuhochdeutsche übernommen zur Bezeichnung von Gottesferne, Ungaube, Unwissenheit. Eph. 4,18: „deren Verstand verfinstert ist, und die entfremdet sind von dem Leben, das aus Gott ist …“
Die profane Bedeutung leitet sich ab aus lat. abalienare (mittelhochdeutsch: enfremden (so!: en…): fremd machen, berauben, nehmen. Philosophisch geht der Begriff „Entfremdung“ auf den lateinischen Ausdruck „alienatio“ zurück, der meint: Fremdwerden, Entäußerung, Veräußerung, Übertragen von Rechten und Eigentum und als Rechtsentäußerung = alienatio juris ins klassische Naturrecht (ius naturale) Eingang findet: 
Die in der Geschichte der Rechtsphilosophie immer wiederkehrende Idee einer der Natur des Menschen (diese sei, so etwa Platon von Athen, 427 – 347 v. Chr., die geistige Natur des Menschen) oder den natürlichen Lebensverhältnissen zu entnehmenden ur- oder vorbildlichen Ordnung des sozialen Seins, die bald als im Gegensatz zum positiven („gesatzten“) Recht stehend, bald als dessen immanente Grundlage angesehen wird, ihrerseits aber eine überzeitliche Gültigkeit in Anspruch nehmen kann. Jedenfalls: aus dem klassischen Naturrecht erhält der Begriff Entfremdung dann seine philosophische Bedeutung.
Seine klassische Ausprägung hat der Entfremdungs-begriff bei Karl Marx erfahren (Ökonomisch-philoso-phische Manuskripte, 1844).

Klarstellung (3) (2254)26

Dass immer schlecht er sei, 
der Mensch, das sag ich nicht;
vielmehr: dass er nicht
über sich verfüge.
Schon weil bedarf er
irgendeiner Sicht,
mit der er sich genehm betrüge:
Sich mit sich selbst aussöhne
als Sozial-Lakai,
sich letztlich sich 
und alles andre schöne,
um zu ertragen diese Sauerei
von Korruption, Betrug 
und Wert-Gestöhne,
Pleonexie, Narzissmus, 
Sinn-Verzicht.

Resümee (4) (2255)27

Die Fremdheit bleibt;
ist undurchdringlich,
ist sprachhermetisch 
zementiert.

Man kopuliere also, 
nehme Drogen …
Man schleiche sich 
in Pseudo-Nähen ein.

Es wird sich immer nur
die Täuschung zeigen
im Griff nach Selbst 
und Du und Wir.

Die Fremdheit bleibt.
Wie die Verfallenheit
an Schein und Leere, 
an Angst, Pleonexie.

Gedicht für Karl Marx (5) (2256)28

Es war die Rede von der Aufhebung
aller Entfremdung, Not, vom Klassenkampf,
von aller Unterdrückung, allem Übel,
auch der vom Opium dann der Religion …

Es war die Rede davon, dass der Proletarier
dann nicht mehr Ware sei, 
er selbst nicht, auch nicht seine Arbeitskraft,
gewinne wieder sich als Gattungswesen.

Dass jeder Mensch sei von Natur aus gütig, 
moralisch auch vollendet, schöpferisch, 
ein freies Dasein ohne Schranken
durch Staat, privates Eigentum: die Bourgeoisie …

Am Ende eines Heilsgeschehens
zur kommunistischen Gesellschaft hin,
in der die Menschen, zu sich selbst gefunden,
sich selbst erhöben dann zu Göttern.

                      *

So reihte sich ein weiterer Ideen-Traum 
als Große Illusion an alle anderen,
um umzuschlagen dann in Diktatur,
in Barbarei, Gewalt und Grausamkeit.
Wie es notwendig für uns kommen musste:
Die wir zwar idealbedürftig sind, 
idealfähig aber als Materie nicht,
als atomare: Ich- und Hab-Sucht-Knechte,
die weder gleich sein können noch es wollen,
als Macht- und als Genuss-Sucht-Büttel,
sterbliche Tiere, angsterfüllt, weil hochprekär
ihr ganzes Leben ist: Verfall und Zeit und Tod …
Ein Zufalls- und ein Nebenbei-Geschehen,
in allen Stunden ohne jeden Sinn: 
all-nichtig, leer, jedweder Deutung radikal entzogen.

Widerpart (6) (2257)29

Alles das ist null und nichtig,
alles Illusion.
Nichts davon ist richtig.
Dasein meint ja Schicksals-Hohn.

Meistern kann der Mensch das nicht.
Ist ein Ichknecht doch.
Kann nicht leisten Selbstverzicht:
lebenslang sich zwanghaft Joch.

Liegt ja auch nicht viel an ihm,
diesem rationalen Affen.
Bleibt als dieser anonym
selbst sich als verfügtes Raffen;

als die Sucht zu überragen,
andre fühlbar auszustechen;
könnte er doch auch nicht tragen,
dass er ist ein Stoff-Gebrechen.

Konsumdiktatorische Fundamentalentbehrungen I (2258)30

Wer eine Heimat oder 
Seelen-Bleibe sucht,
die primär geistgewoben wäre,
ihm also metaphysisch auch zu greifen,
ihn könnte tragen, halten,
zu sich selber führen,
so dass er nicht als Sache nur:
verdinglicht wäre sich gegeben;
als sich entfremdet zwangsverrucht,
als Ausbund einer Warenzähre
in einer gleichungs- 
und verfahrenskalten,
narzisstisch-schamlos tugendschieren
Welt fader Nihilismus-Beben …
wird sie nicht finden,
denn die gibt’s nicht mehr,
ist sie sich selber doch
entborgen rational:
bedeutungsleer dahinzuschwinden,
Brutalitäts-Vollzug 
mit Lust und Macht und Zahl …
Als marktgewirkter Selbstbetrug
und hedonistisches Entlastungs-Joch.

Andeutungen III (2259)31

Was ich da mache?
Nun ich kompensiere
die trauerpralle Welt 
um mich herum,
die mich verwandeln muss 
zur Sache.
So dass ich nur noch
auf mich selber stiere,
mich lege drogensüchtig
Selbstaufgabe krumm
in diesem dekadenten, 
so faktenblinden
Tugendillusionen-Loch.

Was meine Gedichte sagen oder sind IV (2260)32/Sonett/Vergleiche (9/509), (30/1809), (34/2045) und (52/2647)

Vertrackt, befremdlich, primitiv; gar roh:
Sie stoßen ab aus eben diesen Gründen;
sind sie doch Skizzen leerer Seelenwelten
von Menschen, die sich sehn als Körper-Dramen.

Und die, die spiegeln dieses Markt-Tarot,
in dem Monaden sich entfesselt winden
in Stargehabe, um sich was zu gelten:
Allgleiche, die nach Kult- und Selbst-Wert kramen.

So kommt das Ganze immer weiter runter
zu einem Dauer-Run auf Freizeit-Drogen,
die man verblendungsarrogant muss jagen.

Und also alles tut für sich und Zunder*:
So abgerichtet dem System verbogen
und außerstande, sich noch selbst zu tragen.

*Zunder: hier: Geld 

Gesellschaft (2261)33

Dazu gehört, das hab ich nie.
Mir blieb das alles fremd.
Wie etwa Haben, Macht und Ehre;
und andre überragen.

Ich sah sie anders irgendwie.
Als Krake, die mich hemmt,
als Drangsal einer Daseinsschwere,
entlastungsmagisch mich zu plagen.

Als eine stumme Despotie,
die warenmystisch gierenthemmt
sei mir nur hedonistische Galeere,
in Selbstverluste mich zu tragen.

Nachlese (2262)34

Was wird’s gewesen sein am Ende?
Das ist noch nicht zu sagen.
Gewiss kein Inhalt, der gelohnt sich hätte.
Denn solchen Inhalt gibt’s nicht mehr.

Das ganze Leben ist abstrakt geworden:
diffuse Nichtigkeit und Leere.
Ein Augenblicksgeschehen: Reiz um Reiz,
sich marktmotorisch zu belämmern.

Soll heißen, hoch erregt sich auszuleben.
Sich selbst und Welt zu meiden.
Als Körperding sich auszubeuten.
Verlassenheit gelungen.

Bis dass erweisen alle Fragen sich 
als sinnlos: unbeantwortbar.
Entglitt uns längst doch alles Sein,
uns austauschbaren Selbstwerttraum-Lakaien.

Selbstverachtung und Selbstaufgabebegehren/
Sonett (2263)35

Mir kam mein Land abhanden. Es versank
in wertbannhypertrophen Emotionen,
in Wirklichkeits- und Reflexions-Verwehren,
Erlebnisdekadenz und Spracharmut.

Und weil gewissenstot und hybriskrank,
muss es moralmessianisch sich betonen
und linkisch unbeholfen sich entehren
im Sog erlösungswirrer Wohlstandsglut.

Ich will’s nur klaglos diagnostizieren.
Verweisen doch solch Niedergangsgebete
auf eine kulturelle Selbstaufgabe:

Sich tugendmasochistisch zu verlieren,
verfallen infantiler Geistesspäte,
die Volksherrschaft und Recht trägt blind zu Grabe.

Politische Wahl (2264)36

Lieber noch 
demokratische Korrupte 
als Ideen 
hörige Despoten.

Selbstbewahrung I (2265)37
Vergleiche (47/2357) und  (53/2722)

Produktmystisch
ergriffen
stimme ich auch ein
in diese 
von niemand verschuldete
Vergeblichkeitsträchtigkeit
von Artefakten,
Formeln und
sapienten Erregungstrossen.

Eines Alten Feststellungen und kindische Sehnsüchte (2266)38

Eine Urne aus Schnee und Wind
sei einst das Haus meiner Asche.
Dass ihre Körner geschwind
der Zufall in kalte Erde einwasche.

Wobei ich strikt darauf bestehe,
dass es ganz still sein soll.
Dass kein Gerede blähe
sich Stumpfsinn, von Hybris voll.

Das Ganze ist sinnlos: Farce vor Uhren.
Barbarisches Monadenkollektiv.
Erbärmliches Spiel neuronaler Strukturen.
Hirn, das dem Tierstamm entlief.

Intelligenz, sich selber chronisch verfallen.
Schon in Savannenstunden:
Doch jetzt ihre Formen nach Untergang krallen
im Dienst infantiler Kunden.

Selbstbetrug (2267)39

Faszinierend wiederum, wie das alles dahin sinkt:
die eigene Selbstüberhebung vor der Macht der Einsicht,
welche doch die existentielle Armseligkeit radikal aufzeigt,
in der man, sie ignorierend, dahintrudelt, 
sich hartnäckig weigernd,
die Räusche von Hybris und Verblendung  zu entlarven …

All die Verschleierungen und Tabuisierungen,
die man sich, illusionsbedürftig, doch vorgaukeln muss,
um auch nur halbwegs psychisch bestehen zu können.

Schein-Anerkennung/Sonett (2268)40

Warum nach anderer Beachtung streben,
um deren Anerkennung zu erlangen;
weil das die Meinung von sich selbst wird heben,
man weniger sich fühlen wird befangen?

Weil glaubt, man könne auf sich selbst mehr geben,
wenn's um die Schätzung geht von Wertbelangen,
die menschlich tief berühren unser Leben,
ein wenig lockern manchmal dessen Zangen?

Indes in einer Welt von Zwangs-Narzissten,
von Ich-Schauspielern: Daseins-Dilettanten,
von solchen, die nur selbst sich sind gewogen

und so sich ständig mit sich selber brüsten,
wird Anerkennung sich als Trug gewanden
von Schicksalsstümpern unter Selbstsucht-Drogen.

Gedanken an den Tod (2269)41

Je älter ich werde,
desto häufiger denke ich an den Tod.
Freilich nicht angstverfüllt ob seiner selbst,
sondern des Sterbens wegen beklommen,
welches sich ja lange hinziehen 
und sehr schmerzhaft sein kann.
Dass ich dem Tod geweiht bin,
vergällt mir indes das Leben nicht.
Im Gegenteil: 
Nicht selten bin ich sogar erleichtert, 
weil ich weiß, 
dass mit ihm das Alles hier 
irgendwann einmal 
definitiv 
überstanden sein wird
und nichts nachher kommen wird
als ein absolutes Nichts.

Prosafetzen (30): Wir (2270)42

Wir Materie-Komplexe,
chronisch aus auf Momente 
beseligenden Ich-Verlustes.
Starr vor Vergeblichkeit,
Sinnspott und Langeweile
gehen wir unter 
basaler Notwendigkeit:
Kreatürlichkeit, 
Vergänglichkeit, 
Todesbewusstsein.
Und jener Unfähigkeit
zu so was wie Glück,
das nicht gleich wieder wiche,
sich nicht als 
Verbraucherschimäre
und Entlastungsdruckmittel
erwiese.

Opfer physischen Verfalls (2271)43

Ich muss es 
endlich eingestehen:
Ich baue ab, 
verfalle;
genau genommen 
lieg ich physisch brach.

Da sind die Schmerzen,
dir mir nicht vergehen,
ich spür sie stündlich,
fühle sie,
als stellten sie mir
boshaft nach.

Das macht mich 
ziemlich antriebslos,
vergällt mir alle Freude.
Macht mir zur Qual so
jedes Heute. Stellt mich 
als Häufchen Elend bloß.

Entlastungsnotwendigkeiten (2272)44

Religion, 
so hört man es manchmal,
sei eine Droge,
sei „Opium fürs Volk“, 
das es weltanschaulich 
diesseits zu erlösen gelte.

Indes Wohlstand,
Sport, Pop-Musik,
Medienkonsum,
ideelle Befangenheit 
und hedonistisches Erleben
etwa nicht?

Indes: Wer kann schon 
ohne Götzen leben?
Gar ohne Lebenslügen 
und Behelfsfiktionen,
sich Welt zu schönen 
und das eigne Leben?

Ich glaube, niemand kann’s,
weil’s niemand ist gegeben,
die nackten Fakten 
unsrer Existenz zu meistern:
Sich ichprekär als Trance zu ahnen,
ein Leben lang strikt fremdverfügt.

Gefühltes Gleichgewicht (2273)45

Alltäglich ausgesetzt Routine-Prozedur,
darf ich mich überlassen ihrem Schritt.
Sie steuert treulich meine innre Uhr,
verhehlt mir, dass ich Marktverschnitt,
Objekt bin dieser Datendiktatur.
Das nimmt mir Ängste, hält im Tritt.
Weiß ich mich sonst doch als die Kreatur,
die Spielball ist: System-Verschnitt.

Das Ende und der Anfang (2274)46

Gedichte sind nutzlos in einer durch Bilder, 
Gleichungen und ethische Leerformeln 
zugestellten Welt …
eine Welt, darauf angewiesen,
geistige Verfeinerung zu unterbinden,
überhaupt alles zu bekämpfen, 
was sich ihrer Quantifizierungs- und Kommando-Macht 
widersetzen könnte.
Sie zerstört nach und nach alle Phantasietätigkeit,
frigidisiert die Verbraucherinnenwelten,
verhindert fortschreitend jedwede intellektuelle Wendigkeit,
indem sie durch apparativ gesteuerte Emotionen-Bewirtschaftung auch noch die archaisch-primitiven Psychen-Schichten so in Beschlag zu nimmt,
dass sie sogar die Persönlichkeitskerne unterwandert
und zeitgeistkonform zum ihrem Vorteil modelt.

Es ist das Ende von Vernunft, 
Selbstmeisterungsfähigkeit,
Heiterkeit, Erotik und Seelengröße:
Das Ende von Realitätssinn, 
Selbstdistanz und Sachlichkeit.

Es ist der Anfang eines kulturellen Selbstmords,
des Aufkommens einer verrohungslüsternen Subjektivität,
in sich selbst marodierend, werthysterisch, leerformelhörig
und pariatheologischer Stupidität unterworfen …

USA II: Fehlende Fundamental-Ausrichtungen (2275)47/Sonett

Warum sie permanent sich selber loben?
Wahrscheinlich auch doch, um sich zu verhehlen,
dass ihre Selbstansprüche sie verfehlen,
an ihren Werten scheitern. Unten. Oben.

Die meisten sind verstrickt den schäbig groben
Bereicherungsgelüsten, die sie quälen,
weil, arm, sie faktisch überhaupt nichts zählen.
Dem loser-winner-Sprüchlein eingewoben.

Mammon primär und selbst sich hingegeben
- sich selber oft heroisch inbrunstweise -,
fehlt ihnen das, was nur doch Geist kann weben:

Dass man sich nicht nur ständig selbst umkreise.
Um so denn auch politisch dann zu streben
nach Ausgleich, dass das Land nicht ganz zerreiße.

Die Stillen (2276)/48

Die Stillen - alle - kann ich lesen;
und sie auch deuten alle:
Die Stillen sind von gleichem Wesen 
und gleicher Schicksals-Kralle.

Sie treiben durch Vergänglichkeit,
Verfehlen und Verlieren.
Sie geben stets 
denselben Seinsbescheid,

der lautet: Selbstwert, Trance und Gieren;
dann diese Sucht nach Illusionen,
zu lindern uns dies flache Fronen, 
sind Mächte,
die allein uns tragen.

Sie selbst sind lediglich die Boten
von Zufall und Notwendigkeit,
Momente, die uns selbst ausloten
als Teilchen-Launen ohne Sinn-Geleit.

Stiller Beobachter  (2277)49

Überdruss. 
Überdruss an Gesellschaft,
Zeitgeist und Normalität.
Überhaupt an allem,
was üblicherweise
als vorteilhaft, 
gut und erstrebenswert gilt.
Manchmal leise.
Manchmal drängend.
Manchmal hinterhältig.
Manchmal selbstzerstörerisch.
Schon seit Jahrzehnten
ist er mir vertraut,
dieser Überdruss:
mir als stillem Beobachter
eines geistig destruktiven: 
substanzkulturell
verflachenden Niedergangs.

Sozialgefangenschaft (2278)50

Dieses unlösbare Dilemma:
Gelangweilt und befremdet 
will ich gar nichts wissen
von all diesen angebeteten 
Ich-Entfesselungs-Gängigkeiten:
ob Rampenlicht-Neurotik, 
Reiz- und Effektkonsum, 
Emanzipations-Theologie
oder Gesinnungsdebilität.

Alles Knechtsweisen 
personaler Deklassierung.

Und kann mich doch nicht
ihrem Zeitgeistterror
entziehen.
Tritt der mir doch,
narzisstisch triumphierend, 
in den Regungen anderer
ununterbrochen
marktstrammmagisch entgegen.

Moment-Sehnsucht (2279)51

Schmerzfrei dahinsiechen,
müder und müder
angstfrei erträumen
ein gramfreies Ende,
berauschungsentfesselt 
sich sehnend 
nach sanfter Entflechtung:
nach allerletzter 
Daseinsentlastung.

Gefährdung (2280)52

Immer mehr kommt es mir abhanden,
dieses Gefühl gediegenen Ernstes,
die Erfordernisse und Notwendigkeiten 
des beruflichen Alltags sachgerecht erledigen zu sollen.

Obwohl ich ihn, diesen Alltag,
abhängig beschäftigt, bewältigen muss.

Ich lebe schließlich davon, dass es mir gelinge,
mich wenigstens nach außen als zupackend, 
belastbar und motiviert zu präsentieren, 
jederzeit fähig zumal, 
die Kunden bei Laune zu halten,
Zahlenreihen zu addieren
und, rhetorisch versiert, die Illusion anzupreisen,
dass Kultur und Bildung von überragender Bedeutung
für das Individuum und die Gesellschaft seien.

Nicht dass ich ideologisch verblendet wäre,
von einer besseren und gerechteren Gesellschaft träumte,
den Kapitalismus anprangerte,
dass er rücksichtslos, oberflächlich, verschwenderisch 
und letztlich autodestruktiv sei;
oder mich zu beklagen hätte 
über mein persönliches Schicksal.

Nein, es sind mich zunehmend belastende Einsichten 
in diese würdelose Selbstglorifizierung
geistig und existenziell enteigneter Sozialmonaden,
Einsichten,
die mein geistiges Durchhaltevermögen mehr und mehr 
kommandierend unterwandern.

Die Große Gleichgültigkeit (2281)53

Zusammengebrochen,
erschöpft, 
all die Antriebe,
ohne die eine Existenz
versteinern 
und unwiderruflich 
verarmen muss:
Die Lust auf Du,
Anerkennung,
Sehnsucht, dazu zu gehören,
die Bindung an Werte,
Ziele, Halte und Zwecke.

All das 
kam mir definitiv 
abhanden:
Ich stehe und denke
im Zentrum 
der Großen Gleichgültigkeit …
Und greife so 
nach der tiefsten Einsicht.

Beliebigkeits-Nihilismus (2282)54

Möchte wissen,
worüber ich noch schreiben könnte.
Alles fort:
Natur. Liebe. Gott.
Geist. Ideen.
Selbstverständlichkeiten
(fraglose Geltungen).
Psychische Widerstandskräfte.
Realitätssinn
(statt neurotischer Empfindlichkeit
gegenüber bloßen Worten;
statt eines politmessianischen 
Tugendfundamentalismus)
Selbstdistanzfähigkeit.
Verzichtswilligkeit.
Verantwortungsbereitschaft
(statt narzisstisch-kranker Verblendungs-Mache) …

Und mit ihnen 
jedwede Wirklichkeit.

Eingelassen in ein formales Selbst
vergeude ich so stündlich den Rest
meiner intellektuellen Kräfte
in einem aussichtslosen Kampf
gegen einen längst allmächtigen 
Beliebigkeits-Nihilismus,
erlösungs-inbrünstig zelebriert
von existenziell und geistig enteigneten 
Sakral-Orientierungslosen.

Gassen-Gedicht-Lebenshilfe (2283)55

Ich kann nur raten:
Don't make schlapp;
und bleib 
- wie dir befohlen - 
immer cool.
Vor allem:
Lass dich nicht entwowen;
geschieht's dann doch,
sag dreimal 'fuck'.
Zumal du m u s s t 
in Emotionen waten;
denn andernfalls
würde für dich es knapp;
verlörst du dich 
als Waren-fool,
als der du spaßhigh 
darfst doch baden 
in allen 
deinen Seelen-Gauen
als happy guy, 
der jedes Joch
verwandelt sich 
in süßes Grauen,
auf dass es konsumtiv 
zu händeln sei.
Nur so auch 
bleibst du doch auf Zack.

Albinonis Oboen-Konzerte/Für … (2284)56

Ach du, mein kindliches Gespinst,
mein toter blonder Sinnverlust,
es streift der kühle Wind dahin
und Wolken trauern nachmittagsentblaut …
wie damals, vor fast vierzig Jahren,
als ich von Gier gepackt mein ganzes Sein
in deinen jungen Körper grub,
mir Glück und Trost auch zu ertaumeln
und auszublenden die Bewusstseinshelle,
der infantilen Niedrigkeit zu steuern,
der dieser geistesbrachen Psychenwüsten.
Um mich dann doch in den Momenten
der absoluten Lust allein zu finden,
wie’s uns Monaden ja beschieden ist:
Orgiastisch sukzessive zu verschweben,
ganz Lust geworden, selber sich.

Ach du, mein kindliches Gespinst,
mein toter blonder Sinnverlust,
ich hätte mich so ganz allein gefunden,
von dir getrennt, so völlig fremd,
vergeblich einer Sehnsucht Zielkern suchend,
wärn da nicht der Oboen Klänge, 
wie Albinoni sie uns komponierte,
uns Einsamkeitsgebilden zugeflossen,
Geborgenheit uns lügend in die Hirne,
zugleich jedoch auch weiser machend beide.

Ach du, mein kindliches Gespinst,
mein toter blonder Sinnverlust,
vollendungsmonoton erreichte uns
das Ahnen, dass Materie, Materie,
wie wir sie auch doch waren
in unsrer Lust und unsrem Sehnen, 
uns nur als klingende Magie 
zusammenführen und versöhnen durfte …
Musik allein, nicht Gier, uns einen könne,
uns beide deshalb unvergessen bleibend.

Wirrnis (2285)57

Mir fällt 
so gar nichts ein.
Ich bin so leer.
Fühl nur 
die Diktatur der Zeit.
Die reißt mich fort.
Nur mich allein.
Bringt näher mich
dem Teilchenmeer.
Nach dieser Wirrnis
in Vergeblichkeit.
Erlösung nah
aus Barbarei 
an diesem längst
verlornen Ort.

Ungreifbar (2286)58

Hab nie gesetzt auf Illusionen,
auf Lebenslügen und Beschönigungen.
Hab stets versucht,
die Fakten zu begreifen.

Allein es ist mir nie gelungen,
die Perspektiven abzustreifen,
die allen uns nun einmal innewohnen.
Weshalb sie uns subtil verbiegen,

dem Zeitgeist machen auch gedungen:
Sodass wir selber uns betrügen:
uns willig Machtwahndruck verschleifen.

Für homo sapiens bambergensis (2287)59

Vielleicht ja kommst du noch einmal.
Wär schön. Jedoch du musst es nicht.
Schön, weil recht groß ist schon der Jahre Zahl
und die Erinnerung auch Schatten flicht.

Ich habe oft an dich gedacht. Und schwieg.
Da warn die Kinder und dein Mann:
Versachlichungsgehalt; Sozialaufstieg,
der dich in allerlei Verpflichtung spann.

Mir sind, wie du, so manche fremd geworden.
Zumal wir ichfad wach sind, wir, die Vielen,
die konsumierend sich symbolisch morden,
ihr Bestes zeitgeistinfantil verspielen.

Vielleicht ja kommst du noch einmal.
Warum ich’s wünsche, sei dahingestellt.
Da greift Verlust, Bedauern und die seichte Qual,
dass ich mich selber hab um dich geprellt.

 

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