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Diese Seite enthält 58 Gedichte (50 Prosa-, Reim-Gedichte und 8 Sonette)
Person (1935)1
Was ich mir als Person denn wäre?
Nun das ist schwer zu sagen.
Muss man bejahen doch die Lehre:
Dass andere uns tragen.
Nicht nur allein die Zeitgenossen,
auch solche vor uns, Unbekannte,
ein Riesenheer mit seinen Trossen,
sogar Verfemte und Gebannte.
Die bahnten, notgesteuert, Wege.
Oft andre als sie glaubten.
Als ob’s an unserm Wille läge,
uns zielgerichtet zu behaupten.
Doch bleibt das Selbst: Formale Weise.
Ergebnis einer Zufallsperspektive:
Die individuelle Schneise
zu kämpfen sich in eigne Tiefe.
Meist dunkel und nur
ausnahmsweise mächtig,
im Abstand einen zu sich
selbst zu heben.
Um aber wenn, dann still bedächtig
sublimer Einsicht einen zu verweben.
Die Illusionen der Vernunft (1936)2
Wage, alles zu bedenken!
Grade Selbstverständlichkeiten!
Sagt Vernunft: Dich selbst zu lenken.
Faktisch dir dann zu entgleiten.
Ist Vernunft doch außerstande,
auch nur ansatzweise,
die komplexen Daseinsbande
aufzusetzen ihrem Gleise.
Unvernunft ist unser Wesen:
Ichsucht, Niedertracht, Kalkül,
zu ergattern noch monströsen
Vorteil in der Selbste Spiel.
Die nicht frei sind, nichts erkennen,
Wahn und Zufall ausgesetzt,
in die eignen Fallen rennen,
drangsalblind gehetzt.
Dass wir an uns selber scheitern,
das ist unabänderlich.
Tiere ohne Gottesleitern,
hybriskrankes Ich.
Implikationen der Technik (1937)3
Technik? Auch Entwirklichung,
Ausgeliefertsein an sich,
Hybris-, Traum-, Narzissmus-Schwung
eines kleinen Ich.
Das, dank ihrer, sich entlaste,
seinem Selbstbegehr zu frönen:
Dass es sich als Endzweck taste;
und das schon beim Haare-Föhnen,
Gier und Freiheitsillusionen,
so sich zentrisch zu erleben:
ausgeliefert Körperzonen,
Lust und Selbstwertmohn zu beben:
Williger Verfahrens-Stich.
Einsamkeit (1938)4
Vgl.dazu 18/1057, 23/1358, 23/1386, 23/1389, 32/1386
Sie hat mich immer auch geschützt.
Nicht selten vor mir selbst sogar.
Indem sie Rahmen war, zu überlegen,
in welcher Welt ich existiere.
Nun ja: In einer, die die Seele ritzt,
so manche Lüge vormacht sich als wahr.
Um Sinn für Wirklichkeit hinwegzufegen
und zu ersetzen durch Allüre.
Dank ihrer bin ich in der Lage,
die Welt, als was sie ist, mir auszulegen:
Ein primitives Suchtgefüge ohne Frage,
Verflachungsillusionen zu erregen.
Flucht ohne Entrinnen (1939)5
Ich schreibe mich
aus mir heraus,
aus Welt und
Artgenossenschaft.
Auch zu vergessen,
dass dies Kunstwelthaus,
dies kollektive Über-Ich,
mich macht zum Spielball
eines Affengaus,
verdankt
den ingeniösen Messen
von Gleichung,
Markt und Ichdranghaft.
*ingeniös: scharfsinnig, geistreich, kunstvoll erdacht
So ungefähr ist es (1940)6
Man kann im Leben manches meiden;
indes sich selber nie.
Ist so verfügt, ein Leben lang zu gleiten
durch sich als singuläres Was und Wie:
Als Gen-Zufall und Zeitgeist-Bote,
gesellschaftlich konditioniert
zu einer individuellen Note,
die sich als kollektiver Zwang aufführt.
Sich psychophysisch zu erhalten,
durch Arbeitsleistung und durch Freizeitdrogen
in dieser tugendsiechen spaßgramkalten
Verfallswelt … In sich selbst gebogen.
Um einst dann in sein Grab zu sinken;
definitiv von allem dann befreit:
Von diesem trügerischen Leeren Trinken,
von Selbstverrat und Niedrigkeit.
Zwangsautonome Gleichlaufmonaden (1941)7
Die inszenierte Subjektivität -
nach Zeitgeistdirektiven ungreifbar,,
beliebig, innenweltmarode, faktenflüchtig
und selbstverwirklicht allverlassen;
zumal auch metaphysisch obdachlos,
auf Reize abgerichtet, Emotionen,
auf Shows, Effekte, Lustkalküle -
ist so basales Selbst als Körperding,
als hedonistisch optimierte Leiblichkeit …
und technisch hergestellt, verdinglicht und enttiert:
Sich geistig-menschlich karg zerronnen.
Frühe Orte der Sehnsucht, der Hoffnung, des Haltes -
Nach 60 Jahren (1942)8
So fremd geworden; so unsäglich fremd.
Da hilft es kaum, dass ich begreife,
dass nichts Vergänglichkeit uns hemmt,
uns zumal lebenslang des Todes Warteschleife.
Was sind sie stumm geworden, all die Orte,
die einst zu sprechen schienen
die unvergesslich zarten Worte,
sie würden Halt und Sehnsucht dienen;
in ihre Steine sie, in ihren Staub aufnehmen,
für immer dort bewahren.
Egal auch, welche Zeiten kämen,
welch Daseinslast an Trauerjahren.
Ich glaube nicht, dass sie das damals logen.
Verändert habe ich mich; radikal:
Von Einsicht zynisch schroff verbogen …
heißt ohne Rührung, ohne Hoffnungs-Mal.
Dorfschatten/Heimat (1943)9
Was ich mal Heimat nannte, das ist fort;
ist längst als Schattenschar versunken:
Die Schatten derer, die einst lebten hier am Ort.
Vom Großen Nichts schon lange auf getrunken.
Zuweilen lasse ich sie auferstehen
in Form von Bildern, die ich in mir trage.
Die freilich stumm sind, totes Wehen,
nur Flimmerreste früher Tage.
Und doch: Erzählen können sie sehr viel,
wenn man, wie ich, sie kann erlauschen:
Dass da kein Zweck ist; weder Sinn noch Ziel.
Nur leere Traumgefüge, die vorüberrauschen.
Die Margerite (1944)10
Gern werde ich nicht gehen.
Gewiss nicht.
Würde mir doch schon
die Margerite fehlen,
die unscheinbare,
die damals,
in fernen Kindheitsfrühen,
mir selbst den Schuttplatz,
zwischen dessen Reifen,
Schrottteilen, Autowracks,
Schrauben, Rohren und Kabeln
sie gleichsam allschüchtern
hin und her schwankte,
zum Seins-Beweis
eines Wert, Sinn und Bedeutung
gar nicht bedürfenden,
wesenhaft genialen
Unfassbaren
werden ließ.
Gleichungsöde und verdeckte Leeren (1945)11
Wozu Gedichte noch
in einer Zeit,
die sich’s nicht leisten kann,
sich selbst
noch redlich auszudeuten,
verdrängen muss,
dass sie zu Ende geht?
Doch nur noch Gleichungsöde
ohne Sinngeleit,
sich selbst verfügter Ichsuchtbann,
Entlastungszwang ist
ohne Lebensfreuden,
die vor den Scherben
ihrer Habsucht steht …?
Nun dazu: Mich zu distanzieren
von allen diesen Einsichtsschweren,
die in Gedichten manchmal
sich verlieren,
weil sie verdecken jener Leeren,
wenn Geistesmacht
sie auf die Blätter sät.
Wie’s nunmehr um uns steht II (1946)12/Sonett
Vergleiche (21/1257)
Wir sind nur Abklatsch noch von Mammon-Reichen,
sind kindisch agonale Dekadente
auf einem ausgebeuteten Gelände,
wo wir uns spreizen als des Fortschritts Zeichen.
Indes erlebnisgierig aus ihm weichen.
Als ob das unser Kundenschicksal wende,
wenn wir’s beäugten durch des Spaßes Blende,
zumal doch längst schon auch Gewissens-Leichen.
Ob wir wohl schleichend immer weiter sinken
in die von uns geplanten Daseinsgräben,
in ihnen unser Schicksal auszutrinken,
das machte, dass wir uns in Himmel heben,
als deren Sterne selbst uns anzublinken,
anstatt in Gottes Wort* uns zu verschweben?
*Gottes Wort. Soll heißen: metaphysisch sich verorten,
weil nur das Überweltliche - niemals das profan
Diesseitige sinnträchtig sein kann.
Nüchterne Sicht auf das Leben (1947)13
Ein Leben lang mir etwas vorgemacht.
Mir dessen auch bewusst.
Indes ich habe mir gedacht:
So ist das Dasein. Also musst
du Folgendes dir klüglich denken:
Nimm lieber Teil an seinem miesen Spiel,
anstatt dich von ihm völlig abzulenken,
von ihm als Zeitgeistbürde ohne Sinn und Ziel.
Ein Faktum; unabänderlich.
So greife blindlings zu.
Es zu erhaschen sei’s in fremdem Ich,
sei’s nicht zu fragen nach Wozu.
Noch mal: Gerade das, das fehlt ihm doch.
Es fehlt ihm überhaupt das Gute.
Genau besehen, ist’s nur Joch,
ist’s metaphysisch tote Dauerknute.
Geistphantast (1948)14
Ich kann mich als Person
nicht mehr erstreben,
total gefangen
in Entwirklichungen,
die mir den Takt
bis in den Kern vorgeben,
dem Druckfeld der Epoche
ausweglos gedungen.
Was bin ich denn?
Naiver Geistphantast,
ein später, obsoleter,
der stumm sich träumt
aus dieser Orgie Last.
In der sich jeder
doch versäumt;
so dass er,
ihrem Sog verzwungen,
konkreter: Spielball ihr,
sich nicht mehr gegen sie
kann noch erheben.
So, dass ihm
Autotranszendenz*
noch möglich wäre;
und eben nicht nur
dieser Gramvollzug
in hedonistisch
dirigierter Leere.
*Autotranszendenz: Selbstüberschreitung im Sinne von: Sich selbst als Organismus und Triebwesen überwinden
Geständnis V (1949)15
Dass jemals jemand mir ganz nah gestanden,
vertraut mir gar gewesen wäre,
das zu behaupten, wäre glatt gelogen.
Da war nichts an Gemeinschaftsbanden.
Mir zu verdecken meine Daseinsleere,
mich hätte lassen sein gewogen
den Niedrigkeiten dieser Ichsucht-Kehre
als immer gleiches Markt-Verschwelen.
Das, was da nagt, ist Einsamkeit,
ist permanent verdrängtes sich Verfehlen
umlärmtes Artefakten-Trostgeleit,
Bedeutungslosigkeit sich: Ohnmacht zu verhehlen.
Der deutsche Niedergang (1950)16
Man spürt ihn doch, den Niedergang,
weiß um die typisch deutsche Dekadenz:
Sie wirkt als Selbsthasszwang
zu Tugendexzellenz.
Sei’s durch Erlösungshysterie,
sei’s linkisch geistesschlichte Wirklichkeitsverluste:
Die deutsche Strategie,
sich abzuhärmen auf der Kruste.
Man will ja seinen Kern nicht fassen.
Wohl ahnend, der ist fort;
will eher masochistisch sich verprassen
in Wert-Gestrüppen ohne Seelenhort.
Das narzisstisch-ideologisch verstrickte Politische/
Sonett (1951)17
Das linkisch-aggressive Wert-Gebaren,
bezeugend Denkarmut: Das Unvermögen,
subtile Machtverstrickung zu durchschauen,
muss letztlich gegen dieses Land sich wenden.
Das, wohlstandsblind, sich hat naiv verfahren
auf selbstlobsimplen Tugend-Einbahnwegen,
die untergründig lösen auf Vertrauen,
um in Gewalt und Anomie zu enden.
Da greift mal wieder diese deutsche Weise,
sich zu verhehlen, was entlarven würde,
dass das Politische meint Pseudo-Gleise;
so gar nicht selbst sich fassen kann als Bürde,
die macht, dass man, wie einst im Priesterkreise,
ideologisch-primitiv sich irrte.
Moralische Orientierungslosigkeit/Sonett (1952)18
Im Grunde bin ich völlig indolent,
nicht ansatzweise so Moral beflissen
wie die, die ihr Gesinnungsseelchen hissen,
erwünscht nach grade opportunem Trend.
Zumal Subjekt ich bin nur second hand,
dem permanent man sagt, es solle küssen
Vernunft und Würde, Toleranz, Gewissen,
auf dass es lobe, was es gar nicht kennt.
Indes will ich genau die Fakten sichten:
Man kann sich selber nicht mehr geistig greifen -
sind doch verschwunden alle Psychen-Schichten,
in denen Wertgefüge könnten reifen
zu Halten; wenn auch perspektivisch schlichten -,
Vollzugsatom in Nihilismus-Schleifen.
Vorschlag I (1953)19
Und wenn du willst,
entreißen wir der Nacht
Behausungstraum und*
schmale Heimatfährten:
Wir arrangieren Körperlügen -
Bis dann die Fakten-Schlacht
der Ich-Monaden
(das sind Naive,
die sich selbst gefährden)
erneut uns drastisch packen wird
mit ihrer Niedertracht und
ihren Pyrrhus**-Siegen.
*Variante ab hier bis zum Gedicht-Schluss:
kurze Heimatfährten …
Aus Körperlügen
bis zur nächsten Schlacht
der Ich-Gewalten
mit den Zwerg-Gebärden.
**Pyrrhos (lat.: Pyrrhus) , der König der Molosser (illyrischer Volksstamm) und Hegemon (Oberbefehlshaber) des Epirotenbundes (Epeiros = Region im NW Griechenlands. Stämme:Thesproten, Chaoner, Molosser
u. a.) ging, von Tarent gegen Rom zur Hilfe gerufen, 280 v. Chr. nach Italien und besiegte u. a. bei Ausculum in Apulien im Jahr 279 die Römer - allerdings mit großen Verlusten. Daraufhin soll Pyrrhos gesagt haben: "Noch so ein Sieg und wir sind verloren."
Ähnlich könnten wir heute sagen: "Noch so ein Wohlstandswunderfortschritt und alle Glücke werden definitiv verkümmert sein."
Ein bedeutungsloses Leben (1954)20
Kann nicht behaupten, dass mein Leben
auch objektiv Bedeutung hätte.
Es ist nur Zwang, mich selber zu erstreben,
auf dass ich physisch mich erträglich bette.
Und dieser Zwang ist biologisch nur;
ich kann ihn geistig ja verneinen,
betrachten als der Kreatur
naiv getriebnes Meinen.
Fakt ist, ich halte hier nur aus,
weil Geist - Gedichten: Kunst - verwoben.
Was mir noch adelt dieses Traumwelthaus,
durch das sich Zufall und Versagen toben.
Die Menschheit (1955)21
Was soll denn diese Menschheit mir?
Und wer denn ist sie überhaupt?
Abstraktes Tugend-Wir,
das sich als Daseinsgipfel glaubt?
Nun, biologisch eine Art,
die rational sich, scheint’s, verliert:
natürlich unbewahrt,
sich selbst negiert?
Und wenn’s geschähe, wen berührte
ein solcher Untergang?
Dies masseenergetisch in sich selbst geführte:
dies Universum ohne Sinnbelang?
semper idem* I (1956)22/Vergleiche: (56/2918) und (58/3001)
Lebenslang ist man allein;
in sich selbst verschlossen.
Illusionen eingegossen:
Gierverblendungsschein.
Borgt sich Hoffnung, Halt und Zweck,
daseinsdrastisch drauf verwiesen,
sich Gesellschaft auszugießen,
ihr und ihrem Dreck.
Also mach ich mir bewusst:
Ich hab’s gut getroffen …
Warenselig zwangsbesoffen
bin ich Kundenselbstverlust.
Gängig daher immer cool,
folglich auch für alles offen,
kletternd auf der Irminsul**,
rauf zu Mammons Heil und Hoffen.
*semper idem lat.: „immer dasselbe“
**Irminsul: Sächsisches Heiligtum,
wohl die Weltsäule, die den Himmel stützt
Ein subjektiver Lagebericht (1957)23
Der Gesellschaft, der ich frone,
kamen Staat und Recht abhanden …
tugendkranke Zone,
geistig tot; gewissenlos zuschanden.
Aber auch charakterlich:
tief narzisstische Kloake,
dreist gesinnungsliederlich,
selbsthassmasochistisch sich zur Plage.
Kernkorrupte Scheineliten,
die sich selbst entlarven;
keinerlei Vertrauen bieten,
machtstrategisch gar sich selbst wegwarfen.
Ohne jede Kompetenz,
Seelenlose Shows verbreiten;
ohne Eloquenz,
durch Bedeutungslosigkeit doch gleiten.
Entwirklichungen (1958)24
Ein Opfer von Entwirklichungen -
die immer mehr sich in Gehirne tragen,
bis einst das Ganze wird versagen -,
bin ich mir selbst entrungen.
Wiewohl ich habe das schon längst begriffen,
auf Geist mich eingestellt.
Nicht ganz so eingeschliffen
der hedonistisch simplen Welt.
Wir sind ihr eine Katastrophe,
warn es von vornherein:
Biped* verhirnte Technosophe*,
fixiert auf Lüge, List und Schein.
Wie sollten wir uns auf uns selbst verlassen?
In keinem Augenblick doch frei.
Wir müssen uns verprassen
an Schein als Perspektiven-Vielerlei.
Vollenden wird das die KI.
Der letzte Schritt in Allbeliebigkeiten:
Was ist, wird werden Immer-Nie
und Empirie sich selbst bestreiten.
*biped: aufrecht auf zwei Beinen gehen
*Technosophe: „Technikweise“, also ingeniöse Werkzeuge und Verfahrens-Hersteller
Büro I/Mein kleines Büro/Sonett (1959)25
Hab mehr als 36 Jahre hier verbracht
in diesem wirklich winzig kleinen Schreibtischraum.
Vor mir ein Telefon und eine Tastatur,
um einen Drucker und Computer zu bedienen.
Hier also kämpfte täglich ich in einer Schlacht,
die Subsistenz zu sichern und den kleinen Traum,
mich halbwegs durchzuboxen gegen Gram und Uhr:
Zu meiden dieses Daseins mögliche Lawinen.
Bedeutend war das nicht; viel eher doch banal;
doch immerhin das Takten meiner Existenz:
Zu überstehen unsres Daseins tief prekäre,
doch schicksalhafte Ausgesetztheit an die Zahl,
an immer krassere, gewissenlose Trends
erlebnisintensiv erworbner Seelenleere.
Büro II (1960)26
Die Gleichgültigkeit dieser Totenstille,
die Schreibtisch und Bildschirm besetzt,
entmächtigt grad die Ratio-Pille,
mit deren Hilfe ich zuletzt
doch all den Ablauf hier ertrage:
Den Apparate-Terror und die dreisten
Verbraucherlaunen und die Plage
monadisierter Geist-Verwaisten.
Sie fordert nichts und stellt mir frei,
mich ihr für Augenblicke einzuspinnen …
Und lässt - so dass ich ja im Bilde sei -
mich ahnen: Lebenslang zerrinnen
wirst du - verwiesen auf Gehaltseingänge -
sein Marktabklatsch: Ein Spielball seiner Zwänge.
Büro III/Sonett (1961)27
Den ganzen Tag doch knapper Lebenszeit
vorm Taschenrechner und PC verbracht.
Kaum aufgesehen; und auch nicht gelacht:
Kalküle töten jede Heiterkeit.
Kolonnen durchgerechnet lang und breit
und kreuz und quer die Prüfung dann gemacht,
ob’s stimmig sei, was ich da angedacht,
zu Resultaten habe dann gereiht.
Man glaube nicht, ich wolle mich beklagen.
Was mir verböte schon mein Faktensinn;
ich meine dieses Feingespür für Lagen,
die unabänderlich ich selber bin:
Weil sie im Kern mein Dasein tragen:
Das Geist ist, Marktknechtschaft und Lustgewinn.
Büro IV/Gedanken während einer Arbeitspause/
Sonett und Weiteres (1962)28
Am Abend, wenn dann die Kollegen gehen,
indes ich selbst muss noch am Schreibtisch bleiben -
wo nun die Putzkolonnen emsig reiben
an allem, wo sie irgend Flecken sehen -
worauf sie sich, so scheint’s, perfekt verstehen -
an Rechnern, Stühlen, Schränken, Fensterscheiben,
muss ich noch warten mit dem Briefeschreiben;
auch weil sich Reinigungsmaschinen drehen.
So komme ich mal wieder ins Sinnieren
über Entwicklungen im Lauf der Jahre,
die heute prägend ins Bewusstsein schneiden:
Die primitiv-narzisstischen Allüren,
die Spaß-, Erlebnis- und event-Kandare,
das lüstern-infantile sich Entgleiten.
*
Die schlichten Sätze, die medial verführen
zu Wortarmut, befangen in der Ware,
was dann erlaubt, sich als Person zu meiden.
Der Eskapismus, nach dem viele gieren,
damit man vor den Fakten sich bewahre,
entlastungsasozial sich dumpf zu weiten.
Büro V/Sonett (1963)29
Fast spule ich mich rein mechanisch ab
und wiederhole Tag für Tag das Gleiche:
Zunächst am Morgen die gewohnte Fahrt
bürowärts vor PC und Telefon.
Dort herrscht mal Sachlichkeit, mal öder Trab.
Oft geht’s nur darum, dass man steuernd eiche
das Umgangsklima auf entspannt und zart,
manipuliere also die Person.
Doch immerhin: Das liefert Subsistenz,
gewährt so Sicherheit und guten Schlaf.
Auch etwas Anerkennung, diesen Kitt,
der Innenwelten flutet mit Essenz.
Obwohl umstellt von Wir und Paragraph:
Das alles muss so sein; ich trag’s auch mit.
Büro VI/Sonett (1964)30
Nur um Profanes geht‘s: Den Haushaltsplan.
Ich muss den jedes Jahr erneut erstellen:
Gibt’s Defizite, gibt’s gar Überschüsse?
Ich hatte Glück bisher, schrieb schwarze Zahlen.
Das Werk aus Summen mahnt die Fakten an:
Aus Plus und Minus sprudeln klare Quellen;
bezeigend das, was sind Substanzergüsse:
Geld, Plus…, erleichternd uns manch Daseinsqualen.
Man lebt indes doch nicht allein von Fakten.
Man lebt sogar weit mehr von Illusionen,
die größre Macht entfalten als die nackten
Tabellen über einige Millionen.
Denn um sich Zweck zu bahnen: Sinn zu takten,
braucht’s, was mit Wirklichkeit uns kann verschonen.
Büro VII/Sonett (1965)31
Ich werde regelrecht am Schreibtisch aufgefressen
von flüchtigen Notizen und von Formularen.
Die muss ich jetzt sortieren, um sie zu verwahren.
Verdien ich doch mein Geld hier, was erlaubt zu messen,
was ich mir leisten kann an Kosten: Miete, Essen
und sonst noch alles monatlich an andern Waren,
das Leben mir mit Spaß auch manchmal aufzuklaren;
und dabei geht es nicht allein um Petitessen.
Indes um jene Arbeit ruhig anzugehen,
geb ich mich vorher noch dem Reiz der Sprache hin;
dem meiner Muttersprache, um ihr abzuraufen
ein paar Gedichte-Zeilen, die mich dann erhöhen:
Indem sie mir vermitteln so etwas wie Sinn …
Es mir erlaubend, Geistperson mich auch zu taufen.
Radikale Ehrlichkeit (1966)32
Sogar mich selbst hab ich durchschaut;
und das war auch mein Ziel:
Sublimer Einsicht anvertraut,
zu deuten mir dies Daseinsspiel:
Als kommandiertes Zufallsgleiten
durch marktgemachte Selbstgefüge;
So dass ich manchmal durfte meiden
die Nichtigkeit der Wohlstandswonnen,
entlarven ihre Freiheitslüge,
den Wirklichkeitsverlust, ihr ausgeronnen
als kollektiver Täuschungswille …
Auf dass den Rausch nicht flute
jene tiefe Stille:
Des Nihilismus anonyme Rute.
Entlastungs-Selbstverluste (1967)33
Wir sind uns selber nie gegeben;
obwohl grad das die meisten glauben.
Es kommandiert sie eben
die Sucht nach Daseinstrauben:
Nach Wohlstand, Überragen, Macht,
nach Rausch und Lust kurzum ...
in dieser sinn-und deutungslosen Schlacht,
die keine Siege kennt, macht das Gewissen stumm.
Indes: Wen ficht das wirklich an?
Man muss versuchen, zu gewinnen.
Getrieben von dem Bann:
Entlastungsmären sich zu spinnen.
Eine unbeherrschbare gesellschaftliche Farce (1968)34
Ach, dieser Mangel an Wahrhaftigkeit,
an Geistzwang, fordernd Faktentreue!
Da tobt ein Mittelmaß-Narzissmus-Schneid,
der ohne Scham lügt, ohne Reue.
Da tummeln Sieger sich und Glaswort-Luden,
die Starkult-Promis, Power-Trug-Megären;
und alle nur im Dienst des Guten,
vor allem freilich ihrer Leeren.
Doch wie könnt’s anders denn auch sein?
Wenn doch der Wohlstand Selbstzweck ist:
Dann wird noch Lust zur Pein
und Fakten lösen sich im Tugend-Zwist …
Na ja, es ist der letzte Akt der großen Sause.
Auch jener Aufklärungs-Zentrale:
Vernunft, die, hieß es, uns behause
und meistere der Barbarei Randale.
Geistig arme Ideologen (1969)35
Sensibel gegenüber schlichten Worten;
doch vor den Fakten asozial:
Das sind die reflexiv verarmten Horden,
die linkisch sind und plump und seelenkahl.
Beweise dafür, dass schon längst zerfielen
die subjektiven Innenwelten.
Um ihre Brachen auszuspielen
als bloße Zeitgeist-Kälten:
Sie sind der Tugend-Formeln Wert-Propheten,
sich arrogant zu profilieren
als weltgeistfromme Exegeten*
verdrängter Nihilismus-Schieren.
*Exegeten: Ausleger eines Textes (besonders der Bibel)
Meinem im Gemüt so unbelebten Volk/Sonett (1970)36
Wer könnte daran denn noch Zweifel haben:
Dein Staat zerfällt; und mehr und mehr dein Recht.
Doch immerhin ist noch dein Härmen echt,
noch darfst du dich an deiner Tugend laben.
Indes bedenke: Klein sind deine Gaben …
So wirst du aufgerieben im Gefecht
um dein absurdes Lebenssinn-Geflecht:
Dich in Entlastungs-Lüsten einzugraben.
Es steht nicht gut um dich. Im Gegenteil.
Von Pfaffenarroganz kann man nicht leben;
schon gar nicht davon, dass man Keil um Keil
treibt in die eignen kulturellen Streben,
um grauer Einfalt untertänig feil,
ihr Raum für Stumpfsinn und Gewalt zu geben.
Die sich selbst entfremdeten Deutschen (1971)37
Dies Volk war ja schon immer recht verquer,
war metaphysisch-tragisch heilsgesonnen,
verschwommen brünstig nach Phantasmen-Meer,
hat beispiellosen Untergang ersonnen.
Auch für sich selbst; ich sag: für sich primär.
Was hätte anders es denn sonst gewonnen?
So was wie Wirklichkeit, von Alltag schwer?
Dies Reich der Zwänge, schicksalslos und leer?
Geändert hat sich daran nicht sehr viel:
Politmessianisch führt`s nun seine Schlacht
um seiner Tugend absolute Macht.
Die Welt zu retten mit dem deutschen Ziel
totalitärer Würde und Vernunft:
Dem Weltgeist spurend deutsche Heils-Ankunft.
Hilflosigkeit, Fremdverfügung, Entlastungszwänge (1972)38
Und selbstverständlich muss ich akzeptieren
sei’s Stumpfsinn, seien’s Geistmiseren,
mich selbst mit Lebenslügen schmieren,
verdrängen grad die feinsten Leeren,
die durch die Wohlstandsschleier treiben,
in alle Psychen-Tiefen dringen,
in diese sukzessiv sich einzuschreiben
als hochprekäres Ringen
um tröstende Belämmerungen:
Erlebnisflache Flüchtigkeiten:
Geplanter Daseinshektik abgerungen.
Auch dieses Wissen, um sich, Marktspielball, zu meiden.
Selbstentpflichtungs-Laisser-faire (1973)39
Wer wäre nicht effektdebil*,
erpicht auf Reize und auf Sensationen,
sich abzulenken davon, dass kein Ziel
mit Inhalt ihn noch kann belohnen?
Sich selber inszenierend doch als Ware:
Als Ding und Quantität.
Auf dass er selbst als Nutzwert sich bewahre,
als dieser sich Bedeutung sät.
Obwohl substanzentwurzelt und gewissensarm,
berauschungslüstern und anom,
verlassen treibend hin in seinesgleichen Schwarm
als sich entpflichtetes Sozialatom.
*effekdebil: auf Effekte (Wirkungen, besonders spaßdrastische) dummdreist-idiotisch „abfahren“
Schnörkelloses Bekenntnis (1974)40
Und immer wieder will ich eingestehen:
Mit mir hat’s dieses Leben gut gemeint …
Es ließ mich seinen Abgrund sehen,
begreifen, dass es jeden Sinn verneint,
Gedichte schreibend, meine Nichtigkeit gestalten,
dass ich als Zufall von Miseren treibe,
die deutungslos sich uns entfalten
in diesem Dasein ohne Bleibe.
Und wenn ich einst dann gehe wieder unter,
dann werd ich wissen: Du lässt nichts zurück.
Dir war’s Geschenk: Ein Geisteswunder …
vollendungsträchtig tiefstes Glück.
Zufalls-Zechen/Für die Tyche (1975)41
Der Zufall ist nun mal nicht ungerecht.
Weshalb ich niemandem was schulde,
weil Tyche gern mit mir nur zecht,
mich warnt vor jeder Daseinsmulde,
mir noch im Rausch den Sinn für Fakten weckt;
d e r sei das Alpha und das Omega
in einem Dasein, das nur sich bezweckt;
und so, Narzissmus ausgesetzt, riskiert Blabla.
Zum Beispiel das der Tugend (sagt sie immer),
die oft sei potentielle Barbarei;
zumal auch, reflexionsarm, mache einen immer
empörungsprimitiv (zum Perspektivenramsch-Lakai).
Transzendentale Kumpanei/Sonett (1976)42
Was sind wir doch verachtungswürdig: Memmen,
die täuschen, lügen und sich inszenieren;
heißt: ihre kleinen Seelchen ziselieren,
als könnten leicht sie dann dies Dasein stemmen.
Auch fähig, es begrifflich zu durchkämmen,
ihm so zu nehmen Falte, Fleck und Schlieren,
gar Eitelkeiten, die ins Abseits führen,
besonders dann, wenn einen sie enthemmen.
Indes gerade Durchschnitt glaubt, er sei
politisch hochbefähigt (kratisch klug),
zu fassen die subtile Kumpanei:
Die mit sich selbst, dem Menschen nie genug;
ist er doch Daseins-Dilettant, nie frei
von diesem Wesenszwang zum Selbstbetrug.
*transzendental: hier im Sinne von aller Lebenserfahrung als uns notwendig zukommende Wesensausstattung vorgeordnet: also genetisch eingeprägt/angeboren usw.
Über mich selbst - ungelogen II (1977)43
Würde? Nun, die hab ich nicht.
Auch Bedeutung kommt mir keine zu.
Noch bin ich ein großes Licht.
Lebe meist von Nu zu Nu.
Nicht dass mich indes das plage,
stelle es nur fest …
Nicht nur oberflächlich vage,
nein: Den Fakten abgepresst.
Dazu nämlich habe ich die Kraft:
Ungeschminkt mich selbst zu sehen:
Stoffgefügte Wesenshaft:
leeres Drangsal-Grundgeschehen.
Doch auch Geist in mancher Stunde,
souverän, vollendungsträchtig
schließend mich als Wunde …
einsichts-, inhalts-, zweck- und selbstwert-mächtig.
Die sogenannte Liebe (1978)44
Äußrer Zwänge - lebenslanger -
bedarf sie zu gelingen.
Liebe mein ich - phrasenschwanger -;
anders nicht zu zwingen.
Alltagsdrastisch geht sie unter;
heißt: zeigt sich als Lebenslüge;
ohne Halt - ein geltungswunder
Anspruch ohne Überstiege.
Heute oft Behelfsramschmäre
für verdinglichte Monaden;
psychisch tot und ohne Schwere:
Kiffer eigner Schwaden.
Ichschwach hin und her geworfen
zwischen den Verbraucherreizen …
Selbstreklame-Schorfen
digitaler Beizen.
Selbstverlust III (1979)45
Vergleiche (11/646) und (11/647)
Zu verfügen über sich
ist gewiss nicht leicht.
Schon weil dieses Drangsal-Ich
lebenslang nicht weicht.
Einen stets herunterzieht,
heimsucht mit Bedürfniszwängen:
Trostekstasen Glied für Glied.
Die als Endzweck auf sich drängen.
Insbesondere im Du,
dieser Trieb- als Körper-Droge,
dionysisch pralles Nu,
Fleisch gewordnes Sinngewoge.
Verlassenheitsgeborgen (1980)46
Wie lächerlich ist doch mein Aufbegehren.
Grad weil ich weiß, es muss so sein:
Sich selbst ganz fraglos zu verzehren,
dass man nicht ahne, wie allein
in dieser Welt man ist: Der Welt der Daten,
der Waren und der provozierten Glücke.
Und das vom Urschrei bis zum Spaten:
Die Marktknechtschaft kennt keine Lücke.
Weshalb ich lebe ganz zurückgezogen,
auf mich, nur mich, gestellt.
In mancher Stunde so ganz unverbogen
von Du und Wir - mir im Gedicht erhellt.
Noch einmal: Bilanz (27.7.2018) (1981)47
Ich weiß sehr wohl um die Bedeutungslosigkeit meiner Existenz,
nicht weniger um ihre völlige Sinnlosigkeit,
bin mir durchaus im Klaren darüber,
dass ich mitnichten Souverän dieser Existenz bin,
ich,
ein ökonomisch, medial, trivialpolitisch
und flachkulturell gesteuerter Marktbefehlsempfänger,
der radikal auf sich allein gestellt,
faktisch ist eine objektive Konsumpotenz und ein Leerformelkonsument einer schleichend sich
anomisierenden* Gesellschaft,
die hysterisch dauereregt Empörungs- und Emotionshülsen
aus ihren Zerfallszwängen hervortreibt
- indolent, infantil, bildungsarm, tugendagonal*, gesinnungsterroristisch und agápetrunken* -,
Leerformeln produziert,
ihren eudämonistischen* Nihilismus* mit Relevanzgeschwafel
und Schnäppchenjägereskapismen* anzureichern.
Wären da nicht ein paar Gedichtzeilen,
die mir zuweilen leidlich gelingen,
ich wäre vollends nur ein physisches Nichts,
ein geistig deklassierter,
dem Kapitalismus unausweichlich verfügter Biont
als Träger von systematisch ausbeutbaren,
medialsteril und starkultisch vermittelten Selbstentwürdigungslüsten,
angewiesen auf eine verantwortungsunfähige
plebejische Gigantomanie*,
ihren Entlastungsnarzissmus,
ihre seelisch verrohenden Frigidisierungsknuten* und ihre Idiotisierungscoolness.
Dass ich nicht gewalttätig ins Folgenlose randaliere,
hat nur den Grund, dass ich weiß,
dass diese Gesellschaft steriler Mediokrität* und banalophiler* Selbstglorifizierung zum Untergang verurteilt ist,
über den mich zu freuen, mich als Zyniker entlarvte.
Nun, ich freue mich nicht über ihn,
hoffe aber, dass ich ihm, altersbedingt, entgehen werde,
fürchtend zuweilen allerdings,
seine Barbareien würden einst so gründlich und radikal wüten,
dass sie dieser surrealen homo sapiens-Posse könnten
ein definitives Ende zu bereiten.
*Anomie: Gesetzlosigkeit, Verfall, psychiethische Auflösung, Haltlosigkeit usw.
*agonal: wettkampfmäßig; tugendagonal: Ideologisch verblendet um die 'richtige' Moral, Sichtweise usw. kämpfen
*Agápe: Menschenliebe, Gegensatz: Eros, die Liebe die Gott den Menschn entgegenbringt
*eudämonistisch = der Glückseligkeit, dem Wohlbefinden entsprechend. Eudaimonia griech.: Glückseligkeit
*Nihilismus: "Entwertung aller Werte" (Nietzsche). Alles ist sinnlos (nihil lat.: nichts)
*banalophil: verflachungsbetört
*Eskapismus: Flucht vor der Wirklichkeit
*frigide: kalt, kühl, geschlechtlich nicht hingabefähig; hier v. a. seelenlos, gefühlskalt usw.
*Mediokrität: Mittelmäßigkeit
*Gigantomanie: Größenwahn
Nänie* I (1982)48
Man ignoriert die Widersprüchlichkeiten,
die’s zu erwarten galt von einem Fortschritts-Maß,
das geistig-kulturell macht leiden
an warengeneriertem Seelen-Aas*.
Man muss es tun, sind sie doch nicht zu lösen,
zumal, obwohl sie das System bedrohen,
sind unabdingbar jene Größen
sich zu ergeben dem sozialen Einheitsbrei
des faden Standardcoolen, voll im Trend:
Heteronomer Spätaufschrei.
Nänie* II (1983)49 *
Hier geifert niemand, keiner ethisiert.
Hier spricht die Einsicht in die Kerne.
Amechanie* gewahrend, die zuletzt vertiert,
um zu zertrümmern wohl dann diese Spaßkaserne:
Die Halte fort, Gewissen, Selbstzwang-Ich.
Was blieb, ist ein Erlebnis-Wohlstandsschemen,
der in den Staub sich wirft nur noch vor sich
und Phrasen geifert in Verleumdungs-Hämen.
Der ganz vernunft- und würdelos und fad
verkennt das Wirken täuschender Eliten,
die wohl zerstören werden Recht und Staat,
Demokratie Totengräber- scheint's -beschieden.
*Amechanie griech.: Not, Hilflosigkeit
*Nänie (altrömisch) Totenklage, Trauergesang
Nänie III (1984)50 *
Doch Schuld,
die gibt es nicht.
So wenig
Böses da auch tobte.
Nur Irren,
Angst und Lebensgier.
Wer übersähe das?
Wer trüge es?
Zumal nicht gut wir sind,
wir können’s nicht,
allein doch über andre
uns was wert,
getrieben, willenlos,
nach Anerkennung süchtig,
uns fügend Gängigem,
entlastungsselig,
vor Glück uns selbst
dran gebend,
wenn die Gleichen johlen
das, was auch uns
erreichbar ist.
Das ist nicht viel,
kaum dass Moral,
Charakter und Person
es böge.
Es reicht gerade mal,
sie auszublenden,
die Große Bestie,
wenn’s der Wohlstand fügt
durch Furcht, Routine,
mittels Kindereien.
Ein Lauern ist’s
in Unbegriffnem,
ein Traumgespinst
von Lust und Zweck,
Gewebe, zufallsgeneriert
und undurchschaubar
auch versetzt
mit Anonymem und
Verbrechertum …
Um dann am Ende
nicht einmal zu ahnen,
dass es vergeblich war
von vornherein;
schon anfangs Scham
und Leid
und Wunde war.
Fragmente-Synthesis kapitalistischer Spätmystik
(29.7.2018) (1985)51
So leer, so fremd und so bedeutungslos,
Vollzugsroutine theatralisch äußerlich,
von Wertphantasmen überzogen,
sich innenweltfrigide* zu empören
und dauerethisierend zu entlasten
von Wirklichkeits- und Geistes-Ferne.
Bombastik der Unorientierten.
Erregungscircensische* Abfuhr
von existentieller Inkompetenz.
Ein eudämonistischer Nihilismus.
Einer für gesellschaftlich und
kulturell privilegierte Banalophile:
Marktfutter für die Machenschaften
mammonomaner masters of the universe,
Parkettbanditen priapeischer* und
narzisstischer Ichappetenz*.
Doch wer entkäme dieser?
Wer bräche den Stab über jenen?
Wer wüsste nicht um die Lotterien
gängigen Existenzvollzuges?
Wer nicht, dass kein Systembüttel
- und wer wäre nicht ein solcher? -
ausscheren kann aus diesem
verwahrlosungsselig bitgeilen
Totentanzreigen von indolenten,
leerformelaffinen Immanenzmarionetten*?
*frigide: kalt, kühl (oft gemeint: seelenkalt, gewissenlos)
*circensisch: zirkushaft
*priapeisch: unzüchtig, obszön
*Appetenz: primäre, nicht von außen veranlasste, angeborene Triebe; jede Form des Verlangens
*immanent: innewohnend, darin enthalten; Immanenzmarionetten: Wir Menschen als einsamkeitsgetränkte, diesseitsgefangene Marktspielbälle
Gegen Agápe*-Hehrtum (29.7.2018) (1986)52
Es ist nicht schön,
was ich da schreibe.
Es tröstet nicht,
gibt keiner Hoffnung Raum.
Indes da will was in mir,
dass ich redlich bleibe,
Realitätssinn nicht
aufopfre Wertezaum …
Der geistig knebelt,
Mittelmaß erhöht,
Was Sache ist, aushebelt ...
Verführbarkeit macht stet.
*agape griech.: Menschenliebe; s. Fremdwörterverzeichnis
Diese Welt (1987)53
Verbrauchermystisch dauerschal.
Narzisstisch krud verlogen.
Ein Schundmonadenritual
das alle hat verbogen.
Uns alle machte auch zu Pöbel,
in Flachselbst-Stumpfsinn hat verbracht,
mit Phrasen- und mit Starkult-Nebel
zu Werttrugdekadenz-Allmacht.
Verschäbigt hat zu kalten Seelen,
zertrümmernd unsre stillen Glücke,
uns lärmend zu verhehlen,
dass Ramsch uns nur berücke,
Erlebnisfolgen aufgesogen.
Spätes Erinnern (1988)54
Manchmal -
je älter ich werde, desto häufiger -
denke ich an meine Eltern.
An jenen ewig betrunkenen,
kriegsbedingt haltlosen Mann
und jene vor Lebensangst
verstockte Frau.
Er ist schon seit über 32 Jahren tot.
Sie seit fast 16.
Ich möchte beiden noch etwas sagen.
Und ich weiß auch genau, was.
Ein völlig sinnloses Anliegen allerdings,
denn sie sind ja nicht mehr.
Wäre aber auch sinnlos,
wenn sie noch wären.
Wenn man nämlich so lange geschwiegen hat,
wie sie und ich,
dann nutzen auch Worte nichts mehr.
Ich behalte für mich,
was ich ihnen hätte sagen wollen.
Nähme es mir doch niemand ab,
unfähig,
außerhalb der Kategorien
Schuld und Versagen zu fühlen,
völlig außerstande auch,
nicht zu schwadronieren
von Verklärung oder Verdrängen.
Indes ich
über eine Einsichtsschärfe verfüge,
die es nicht nötig hat,
Schuld zuzuweisen,
zu verdrängen und zu verklären.
Eine Einsichtsschärfe,
für die es selbstverständlich ist,
dass niemand über sich selbst zu verfügen
in der Lage ist;
nicht mal ansatzweise.
So bleiben mir nur
ein paar heimliche Tränen
für jene beiden,
denen Vorwürfe zu machen,
ich nie einen Grund hatte,
wohl wissend,
dass sie Marionetten einer Zeit waren,
die sie notwendig ihrer selbst benehmen
und ihrer selbst entfremden musste.
Ausweglos.
Und das,
das habe ich begriffen;
schon ganz früh gewusst.
Sonett für die alte Bundesrepublik Deutschland (1989)55
Dein Mäkeln war wohl Antriebsüberschuss.
Denn besser hätt es können gar nicht sein.
Gewiss warst du dein Leben lang allein:
Dir widerfuhr nun einmal dieses Muss.
Und wenn du manchmal dachtest: „Mach doch Schluss!“,
war’s kindisch: Koketterie, weil im Verein
mit Lebensgier, die nur den besten Wein
verkosten wollte (ein Genom-Beschluss).
Du hast nicht Krieg, nicht Inflation gekannt.
Du wurdest nicht gefoltert, nicht verbannt.
Und auch von Armut warst du nie betroffen.
Das Denken hat dir keiner je verboten.
Du durftest ungestraft dich selbst ausloten. –
Was klagst du also? Mehr ist nie zu hoffen.
Entfremdung (1990)56
Schon lange finde ich Vergeistigungsmomente
nur in mir selbst noch. Das ist einfach Fakt.
Und auch die Großfarce meiner letzten Jahre.
Indes: Ich wusste doch, so wird’s mal kommen.
Entfremdung zeigte sich mir schon sehr früh:
von Scheinpersonen, Körpern, Tauschobjekten.
Sie hat sich lediglich substanzmassiv verstärkt.
Mich völlig nunmehr innerlich entfremdet
von Du, Gesellschaft, Tugendzweck und Ernst.
Bitte/Für ... (1991)57
Dass sich mir zeigen müssen
- warum, das sei dahingestellt;
ich nehme an, dass ich schon recht früh
zu einem Virtuosen des Realitätssinnes geworden bin;
zumal alltäglich konfrontiert
mit dem bäuerlichen Materialismus meiner Mutter,
der die Scholle, das Geld
und die nackte Faktizität alles galten -
alle die Illusionen,
die gerade auch der Eros uns notwendig schafft,
indem er uns in die Vollendungsirrationalität
körperlich unüberbietbarer Lust reißt …
Dies mir zu verzeihen, bitte ich dich.
Kann ich mir doch nicht selbst entkommen.
So wissend, dass ich,
selbst in dich versunken,
mich, deiner Reize erst einmal wieder beraubt,
jenes Täuschungsräuschen stellen muss.
Zumal überhaupt doch so oft geknebelt
von diesem unabweisbaren Bewusstsein,
subjektiv gänzlich bedeutungslos zu sein.
Schutzlos dem Nihilismus
unserer modernen Existenz ausgesetzt.
Welche Illusionen, magst du mich fragen wollen.
Nun etwa der, dass die Liebe das Höchste sei,
was das Dasein uns zu bieten habe.
Indes ist dieses doch selber unbegreiflich,
zumal auch so geartet,
dass es uns verbirgt,
dass die Liebe nicht zu dem gehören kann,
was sich ohne Preis, rein ideell und edel zu schenken hätte.
Einmal abgesehen davon,
dass wir zu ihr gar nicht fähig sind,
wie sehr wir sie uns auch naiverweise wünschen mögen.
Wir brauchen Sie vielleicht als Gottersatz,
uns Trost und Sicherheit zu geben,
Vertrauen einzuflößen, die Hoffnung auch,
dass da jemand sei,
auf den wir würden immer zählen können …
Auch uns zu verbergen,
wie sich’s faktisch doch verhält mit uns,
die wir, der Natur entlaufen,
radikal allein auf uns selbst gestellt sind:
Stoff, Zeit und Gier.
Wertbedürftig bis zum Selbstbetrug.
Und ein Leben lang
- daran änderte auch die Liebe,
hielte sie, trüge sie, wäre sie gar unzerstörbar, nichts -
völlig allein sind,
unfähig, uns anderen mitzuteilen,
außerstande,
uns selber nicht sprachlich zu perspektivieren
und zu fiktionalisieren.
Bodenlos so hineinagierend
in dieses unentwirrbare Dickicht von Zufällen,
Getriebenheiten, Abhängigkeiten, Fehlgriffen,
Enthemmungsdelirien und Intellekt-Orgien,
dabei uns stets bewusst,
dass wir Endlichkeit und Verfall
hilflos ausgeliefert sind.
Baryonische Materie (1992)58
Was die doch
letztlich alles kann!
Sie kann sogar
Gedichte schreiben:
Mich benutzend,
ihren Bann,
der sie ist
in seinem Treiben:
Teilchenzwang
als Spezies-Mann.
.
Den sie schuf,
ganz unbewusst;
ohne Absicht, ohne Ziel,
ohne eines Gottes Ruf,
nicht zu Gram
und nicht zu Lust.
Nicht zu herrschen,
nicht zu bleiben ...
Nicht
zu einem Geistesspiel ...
Einfach nach Naturgesetzen,
Teilchenwirbel zu Strukturen,
die in Auflösungen hetzen,
nicht sich kümmern um uns Spuren:
leere und bedeutungslose,
Sinn erträumend vor den Uhren,
Sehnsuchtswirren auf zerbrochnem Floße.
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