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Diese Seite enthält 63 Gedichte (56 Prosa-, Reim-Gedichte und 7 Sonette)
Unvereinbare Seinsweisen (1871)1
Wenn du nicht witzig bist und Nettigkeiten streust
vor diese hochsensiblen Egoisten,
nicht mimst als Gleicher dich doch unter Gleichen,
du ihre Mittelmäßigkeit und Hybris scheust,
weil du durchschaust das Inszenierte,
dass sie sich selbst, weil seelisch tot, ausweichen,
erfasst das Aufgesetzte und Verlogene,
das Kalkulierte und Verzogene ...
du ihre Tugendphrasen auch nicht wiederkäust,
gar ihnen sagst, sie seien Marktstatisten,
dann offen zeigst, dass du sie tief verachtest,
weil fad sie seien und gewissenlos blasiert,
noch arroganter als du eh schon dachtest,
dann wirst du aggressiv gemieden,
störst du doch Stumpfsinn und Narzissten-Schwall,
entblößt die Fakten-Flüchtigkeit von Nieten.
Entgrenzungsgier und Innenweltzerfall.
ZINSJ (77)/Zurückweisung (1872)2
Ich bin nicht interessiert an Ihnen.
Zumal mir selber doch genug.
Ich will nicht Ihren Ich-Beständen dienen.
Zu misstrauisch. Zu kühl. Und auch zu klug.
Was könnten Sie mir geben denn an Glücken?
Die ließen mich gewiss doch ziemlich kalt.
Ich will mich nicht mit Du bedrücken.
Weil’s nicht mehr taugt als Halt.
Die Liebe? Nur ein Korb von Illusionen.
Event, Romantik. Selbstreklamedreist.
Sentimental mag man ihr fronen,
damit da keine Einsicht reißt:
Die in die Tiefe dieser Existenz.
Denn die ist ohne Wert und Sinn,
ist Phrasen-, Lust-, Konsum-Potenz.
Entlastung ohne Selbst-Gewinn.
Heutige Gesellschaft (1873)3
Sie gibt sich nur noch mit sich selber ab.
Mit Zahlen, Werten und Verbraucherlüsten.
So ist sie permanent auf Trab,
sich widersprüchlich aufzurüsten:
Die Werte werden mehr und mehr gebrochen.
Auch weil die Zahlen steigen:
Da wird Erlösungsrausch versprochen,
Verwahrlosungsentkräftung sich zu neigen.
Das Schicksal aller Dekadenten:
Sie können sich nicht
gegen sich mehr wenden.
Freiheit (1874)4
Freiheit? Wunderbarer Wahn.
Niemand, der sie hätte.
Jeder zerrt auf eigner Bahn
immer nur an seiner Kette.
Bis zu seinem Ende hin.
In sich selbst gefangen.
Zufallszwangslauf ab Beginn:
Ichsucht, Amoral,
verdrängtes Bangen.
Unfrei ist das ganze Leben.
Freiheit tranceverfügte Illusion.
Muss man doch sich selbst hingeben.
Ausgeliefert dieser Fron*.
*Variante der letzten Zeile:
"unfrei beugen Traum und Fron."
Enttarnungen (1875)5
Enttarne mir doch immer mehr
gedeutete Erinnerungen:
Sie täuschen: Euphemismen* der
alltäglich rohen Niederungen
des Menschseins, das sich doch nur misst
nach Trieb- und Ratio-Wucherungen.
So liest man’s, wenn man redlich ist.
Am Ende liest man noch sein Lesen:
Dass oft Betrug es war,
Verdrängen, Lügen.
Die Helfershelfer sind gewesen,
um wunschgemäß sich selbst zu fügen.
In andern unerkannt misslungen.
Fiktionen-X als Trance sich hehr.
*Euphemismus: „Hüllwort“; z. B. statt „sterben“ „verscheiden"
Erinnerungen an Ernesto "Che" Guevara (1876)6
Revolution und Tugendideale
Voilà des radikalen Intellektuellen
politisch-ethische Erkennungs-Male.
Meist endend in Geheimdienstzellen.
Ihn trieb der Wachtraum von gerechten
Verhältnissen der Solidarität.
Die es dann irgendwann auch mit sich brächten,
Pleonexie zu meiden, Hunger und Gebet.
Der Neue Mensch sollte das leisten.
Doch wer der wäre, hab ich nie begriffen.
Ich glaubte an den alten, stets entgleisten.
Und der ist Niedertracht verschliffen.
Psychenböden/Sonett (1877)7
Ich werde sie für nichts geschrieben haben.
All die Sonette, die ich noch mal sichte.
Sind sie primär doch kühle Selbstgerichte,
die rücksichtslos an unsren Kernen schaben.
Und offen legen mir auch solche Gaben,
die sich verstecken in der Seele Dichte,
weil sie auch noch das amoralisch Schlichte
versiert doch können leicht ins Helle graben.
Für nichts? Was rede ich da! Sie zu schaffen
als dichterische Selbstenträtselungen,
gewährte Einsicht mir durch Geisteswaffen
in sapienstypisch dunkle Niederungen.
Die, blind vor Ratio-Hybris, deuten Pfaffen
als obsolet, längst nieder schon gerungen.
Privilegierter Ausweg (1878)8
Über einen Kamm gescherte,
alle wir, Sozialmonaden.
Trotz Genuss von Gram beschwerte
Sucher ohne Selbstwertfaden.
Wühler in abstrakten Räumen.
Dort Bedeutung zu erhaschen,
rational sich zu versäumen:
Aufzusitzen Werttrugmaschen.
Bleibt, ohne letzten Zweck zu leben,
sich an sich selber geistig auszurichten.
Gibt es doch nichts mehr zu erstreben,
was würde Halte einem schichten.
Was würde nicht man müssen fassen
als objektive Selbstaufgabeposse:
Verfügt, sich zu entlassen
in tauschsakrale Tugendgosse.
Wahrheitsgemäß II (1879)9
Ich brauche keine Medien-Tiefen.
Und keine Tugendoberflächen.
Was also soll ich, sag,
mit dir besprechen,
doch ausgeliefert Ramschrauschoffensiven,
perfidem Zeitgeist ausgeronnen.
Dem platten Sosein,
das nichts taugt,
und dennoch
alle gierig in sich saugt
durch Dauerproduktion von Mittelwonnen?
Ich warne dich vor mir.
Du machtest keinen Stich.
Ich risse dich
in alltagsferne Sphären.
Mich dort dann deiner zu erwehren.
Dich ahnend längst als jener Ich.
ZINSJ (109) (1880)10
Halt ist nirgends.
Es sei denn,
man hat das Glück,
die paar Illusionen,
an denen man ihn festmacht,
nicht zu durchschauen.
Ich hatte
dieses Glück nicht.
Depersonalisierungszwänge/Sonett (1881)/11
Zu vergleichen mit der Variante (53/2742)
Zerstört sind alle Selbstverständlichkeiten
in dieser Tauschfarce ohne Hochkultur.
Die Einzelnen sind auf sich selbst verwiesen,
sich Wertverfallsentschämung anzupassen.
Und völlig außerstande, sich zu leiten,
gar zu erwehren dieser Psychenschur.
Zumal sie sollen grenzenlos genießen,
ihr Dasein, Lust verschrieben, zu verprassen.
Das ist das Ende aller Psychen-Halte.
Der Ausverkauf auch aller Selbstbestände.
Auf dass systemkonform er sich entfalte,
er selbst verwahrlosungserpicht sich schände …
der ruinös anom gewissenskalte
Verbraucher kalkulierter Rausch-Momente.
Gegen die Freiheit des Willens (1882)12
Wir können deshalb schon nicht frei entscheiden,
weil wir doch nur in groben Zügen ahnen
das Selbst- und Welt-Geschehen, deren Bahnen
sich heutzutage so komplex verzahnen,
dass wir sie faktisch anonym erleiden.
Sie gar nicht fassen können, sondern gleiten
entlang nur einer der diffusen Seiten,
die sich uns bietet, uns ihr anzuahnen.
All unser subjektives Tun und Lassen
ist fremdgesteuert durch Globalgeschehen.
Das längst sich selber ist nicht mehr zu fassen.
Das heißt, dass wir an Wahngebilden drehen,
wenn wir uns Selbstbestimmungstraum verprassen.
Was freilich tröstet, lässt’s doch Sinn aufwehen.
Bald hinter mich gebracht (1883)13
Was will ich mehr?
Fast hab ich’s überstanden
dies Waren- und
dies Daten-Meer.
Von Machern
und von Spekulanten,
von Macht-Schauspielern
und gelenkten Massen,
von Seelendealern
und von Tugendblassen …
Und die paar Jahre,
die mir übrig bleiben.
die werd ich
auch noch überstehen.
Bevor die nach mir
ins Fiasko treiben
und haltlos
vor die Hunde gehen.
Politische Illusionsträger (1884)14
Doch Gramhort eines Ich-Verlieses,
meist Niedertracht und Korruption gelungen,
dem Hang des Durchschnitts,
sich zu überschätzen …
Macht, Ehrgeiz,
Hybris und Verblendungsraffen
sich plattnarzisstisch einzuweben,
erscheint’s mir angebracht,
zu sagen dieses:
Man ist nun mal sich selbst gedungen,
verheddert sich in eignen Psychen-Krätzen,
maßt sich nur an,
sich selber frei zu schaffen …
Ein Kreatürchen eben.
Und zwar ziemlich mieses.
Wie es gewöhnlich um uns steht (1885)15
Ich mache mir da gar nichts vor.
Das Beste bleibt auf Rand verwiesen.
Herrscht doch der ichgeplagte eitle Tor,
den andre Toren mit nach oben stießen.
Geriert sich, Durchschnitt, als Elite.
Von seinem blassen Selbst geschunden.
Es ist die Eitelkeit der Niete.
Schaumschlägerei und Ehrgeizzwang entbunden.
Der Drangsal dumpfer Kernbefehle:
Zu gelten, auszustechen und zu überragen.
Halluzinierend, dass man so sich wähle
und fähig sei, sich als Person zu wagen.
Monomanie der geistig Armen/Sonett (1886)16
Zu glauben, dass es auch um mich hier ginge,
das wäre kindisch und naiv gedacht.
Zumal ich bin in eine Welt verbracht,
die kaum noch regeln kann die großen Dinge.
Als ob sie müde einem Traum nachhinge,
von dem sie ahnt, er wird verglimmen sacht,
schon weil man übersah der Fakten Tracht,
verlor sich selbst in einer Tugendschlinge.
Zumal man Mühe hat, komplex zu denken,
sich lieber einlässt auf Moralgefüge,
um sich gesinnungshehr bequem zu lenken.
So ignorierend, dass man sich belüge,
um nicht zu sehen, dass man an den Tränken
der Barbarei kennt keine Tugendsiege.
Freizeitbefehle (1887)17
Vergnügen, Sex und Alkohol.
Erregungsdrastisch und vollzugsformal.
Nach Zeitgeistzwängen inszeniertes Wohl:
Entfesselungswirrsal.
Erfahrungsarm erlebnisintensiv
nur wiederholtes Gleiches,
das drastisch oberflächentief
Kommandokult ist eines Lustpflicht-Reiches.
Und das ist sinnlos; muss es sein.
Da nippt ein Ich an provozierten Glücken.
Auf sich zurückgeworfen, ganz allein,
entlastungsdumpf sich zu berücken.
Lückengedicht (1888)18
Obwohl du sollst nur eine Lücke füllen,
will ich mich auch um dich bemühen.
Auch du sollst künden von den Stillen,
die mein Bewusstsein stets durchziehen,
mir Kunde geben von dem Weltgeschehen,
von dem auch ich ein Knecht doch bin:
Doch seine Kerne drastischer kann sehen:
Dass es sich dreht Verderben nun wohl hin.
Auch Opfer freilich von Bedarfsfiktionen:
Stets doppeldeutig-bodenlosen Werten.
Um Selbstbetrug und Ideal zu fronen
mit lügenträchtigen Polit-Gebärden.
Nun: Ideale zwecks Entlastung brauchen wir.
Doch sie zu leben, sind wir außerstande.
Schon weil uns treibt die Selbstsucht-Gier,
in ihr um's Ende wissend, doch Materie-Bande.
Starsystematische Substanzlosigkeit (1889)19
Intellektuell dumpf, narzisstisch,
technodionysisch, behelfslüstern:
Entlastungshungriges Ausleben
eines Kommando-Hedonismus.
Belämmerungs-Idolatrie
mittels geistfremder
Stakkato-Motorik und
heißer röhrender Bedeutungsstarre.
Hans Castorps Humanitäts-Utopie/Für Thomas Mann
(„Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“, Thomas Mann, Der Zauberberg, S. 679, Fischer-Verlag, 8. Auflage 2010) (1890)
Nicht einer könnte davon leben:
von Güte, Liebe und von Menschlichkeit.
Es ist uns nun mal keine Existenz gegeben,
die wäre ohne Hass, Gewalt und Widerstreit.
Humanität? Ein Traumgefüge,
weil wir an sich zu ihr nicht fähig sind,
verwiesen lebenslang auf Trug und Lüge,
auf tröstenden Moral-Absinth.
Notwendig müssen wir zerbrechen
grad an uns selbst: Dem Ratio-Affen.
Orgiastisch willenlos uns Stoff verfügt verzechen,
von Zufallslaunen so geschaffen:
Dass letztlich wir nur sind Verhärmungsblässen,
Natur entlaufen Untergang geweiht.
Bedürfnisradikal uns dirigierte Angst-Ivressen*
und Leib-Gebresten-Scheit.
*ivresse franz.: Trunkenheit, Rausch, Begeitserung
Erotische Magie (1891)20
Es ist schön,
deinen Nu-Leib
zu streicheln.
Leicht lässt mich das
alle Vernunft und
alle Lebenserfahrung
missachten.
Ekstasehungrig
zurückschlagen auch
dies trügerische
Vergeblichkeitslallen,
von dem ich weiß,
was es mir sagen will:
Wieder wirst du nur
Augenblicke pflücken
Vergessen versunkener
Körperlichkeit:
Ungreifbarer Person
Raum-Phantasma.
Resigniertes Aufbegehren (1892)21
Ich will mich freilich nicht zufriedengeben
mit Surrogaten, die der Markt mir produziert:
Mit Waren, Lüsten, Kicks und Psychen-Beben,
in denen man sich als Verbraucher dann verliert.
Nach Sinn indes muss ich gewiss nicht fragen
(denn einen solchen gibt es nicht).
Ich muss aus eigner Kraft mich durch dies Leben führen.
Und das, das hat nun mal kein metaphysisches Gewicht.
Ist nichts als hedonistischer Vollzug.
Als Sog von konsumtiven Kult-Belämmerungen.
Ist ökonomisch grundgelegter Selbstbetrug,
mir anempfohlen von Millionen Zungen.
So bin ich letztlich hilflos angewiesen
allein auf folgenlose Geistestätigkeiten:
Die freilich helfen mir, mit allem abzuschließen,
so dass ich mich nicht nur als Umsatzgröße muss erleiden.
Hoffnung des Alternden (1893)22
Seit einigen Jahren schon
registriere ich
die sich mehrenden
Symptome
meines physischen
Niedergangs,
kindisch mich
zugleich
an die Hoffnung
klammernd,
der geistige
werde nicht
entsprechend
folgen.
lallungsverfeigt (1894)23
pseudogeläutert
verkehrungsstur
so friedliebend
wie zündwegsam
deutschpfäffig
neben aller
realitätssinn-
verweigerung
phrasenberlinerisch
die anbiederung
spracharm tölpend
am Hindukusch.
Sehnsuchtssterben/Für homo sapiens bambergensis (1895)24
Und bis zum Ende werd ich manchmal gehen
zum alten Parkplatz, nah der matten Neonlampe.
Wiewohl versoffen, krank: Gekrösepampe.
Ein Wrack, das träumt, dein Staubgedicht
noch mal zu sehen.
Dich selbst, dich ferner Tage Haltversprechen:
Das eines Traumes Singsangtiefenlied.
Die Schönheit deines Körpers mir zu brechen
aus was nur meine Sehnsucht sieht.
Trotz längst verschwommener Erinnerungen.
Wohl wissend, dass ich phantasiere
Schimären, der Vergänglichkeit entrungen,
auf dass es meine dünne Seele rühre.
Ich rufe so herauf dein Angesicht,
noch jung und zart und makellos.
All das bezeugt mir jenes fade Neonlicht,
von deinem Glanz betört, mir gaukelnd Daseinsfloß.
Gefühlsromantizismus und Verklärungskinderei?
Gebrochner Popanz eines schon Senilen?
Mag durchaus sein. Doch auch ein Schrei
nach Sinn in deinen Leib-Asylen.
SMS (41)//Zufällig aus einer Papierhalde gezogen (1896)25
Die Trauer-Moiren zerlosen
zuletzt nun auch
die platonische Metaphysik,
überdrüssig
der Idee des Guten
und ihrer evolutionär
zuschande gedeichselten
Folgenlosigkeit.
SMS (40)//Zufällig aus einer Papierhalde gezogen (1897)26
Erfahre ihn doch alle Tage,
diesen Kult der Selbstdarsteller.
Ohne Rücksicht auf die Lage.
Selbst sich schmeichelnd immer greller.
Demokraten sich zwar nennen,
freilich eher Selbstwertjäger,
die sich ichschwach überrennen:
Kaum beredte Wortschaumschläger.
Volksherrschaft? - Zielt auf Elite:
Maß und Mitte, Ernst, Askese*.
Weitsicht, die sich strikt verbiete
jede Utopisten-These*.
Wisse um Pleonexie*,
die des Menschen Kern ausmacht.
Kenne auch das innre Vieh,
auf Gewalt aus, Lüste, Pracht …
Sein als Nihilismus-Despotie*.
Lasse es bei Lebenslügen:
Freiheit, Würde, Glück und Sinn.
Worte, deren Trost mag biegen
auf ein bessres Leben hin.
*Askese: Vor allem Selbstdistanz
*Beispiel: Marxens Gesellschaft der nichtentfremdeten Menschen, die als solche „gut“ seien (also solidarisch, human, selbstlos usw.) und von sich aus immer das sittliche Richtige täten
*Pleonexie: Nach Gehlen, völlig korrekt, das Ineinanderlaufen von Ich-, Hab-, Macht- und Genuss-Sucht.
*Nihilismus-Despotie: Gemeint ist unser Dasein, objektiv/naturalistisch: ohne Lebenslügen, Beschönigungen, Traumtänzerei und Illusionen welchen Inhalts auch immer betrachtet.
SMS (43)/Selbstobjektivierung//Zufällig aus einer Papierhalde gezogen (1898)
Ich sammle alle meine Leeren,
die außen wie die innen,
um täuschungsvirtuos sie umzuschwören
zum Kehricht von Gewinnen.
Ich mach’s gerade wie die andern:
Mach Sinn, Gelingen und Erfolg mir vor,
um aus Bedrückungs-Faktenlagen auszuwandern.
Bis an das Leichenhallen-Tor.
Und weiß auch: Würd ich’s anders machen,
es auch nichts ändern würde:
Anthropomorphe Sache unter Sachen,
Bedürfnisbüttel ohne Wert und Hirte.
SMS (38)//Zufällig aus einer Papierhalde gezogen (1899)28
Eine Herde Entenschnabelsaurier
hat sich zu mir geflüchtet,
mich ängstlich beschwörend,
den Gaspreis zu drücken.
Der aber denkt nicht dran,
den Weg über Spanien zu nehmen.
SMS (34)//Zufällig aus einer Papierhalde gezogen (1900)29
Entwahnungsverzärtelt.
Orgiastik
schlürfende Nachhut.
Hemmungsumäugt
vor Argwohn,
begriffslastig auch
voraussehend
die ins Leere laufende
Kindlichkeit
wohlstandsfrenetisch diktierter
Entlastungs-
Resignation.
SMS (32/1901)30/Warum ich den Kapitalismus so bitter nötig habe//Zufällig aus einer Papierhalde gezogen
Er mag anleiten zu geistiger Verwahrlosung,
zu einer emotional prägenden,
technokratisch-effektzentrischen Rationalität,
infantiler Dauererregtheit, affektiver Ausdünnung und
bombastischer Selbst-Elitisierung entpflichtungshungriger:
narzisstischer Abklatsch-Subjekte.
Er mag so die Menschen zwingen,
ihre objektive Bedeutungslosigkeit,Gewöhnlichkeit,
Desorientierung, Indolenz und fortschreitende innere Verarmung
durch marktgeformte Inszenierungen
banal-hedonistisch zu überspielen.
So ist er doch zugleich das einzige Wirtschaftssystem,
Massenwohlstand* hervorbringenzu können.
Und der ist nicht nur die Klammer der Gesellschaft,
nicht nur der Garant für Frieden,
Rechtlichkeit und Demokratie, sondern auch für Glück, Halt, Erfüllung und Sinn für Menschen,die,
würden sie dieser Illusionen beraubt,
nach und nach innerlich zusammenbrächen,
sittlich völlig zerfielen und dann einer Irrationalität frönten,
die sich auf Dauer ohne Barbarei kaum vorstellen lässt.
Und das sind die Gründe, warum ich immer wieder
auf ihn zurückkomme: Ihn, der mich trägt, versorgt
und mich meinen Einfällen und Absonderlichkeiten
ungestraft nachgehen lässt;
und der, solange er die von ihm mitproduzierten
infantil-hedonistischen Entlastungsmittel liefert,
die innerlich marodierenden Subjekte
halbwegs im Zaum zu halten in der Lage sein dürfte.
Und auch insbesondere mich vor allen Verwerfungen
ökonomischer, politischer und rechtlicher Art
bewahren dürfte.
Das heißt, ich habe ihn,
meinen psychoethisch und geistig so destruktiven Gegner,
deprimierend bitter nötig,bin zumal in jeder Hinsicht
auf ihn angewiesen, mich wie auch immer
- dank seiner - ihm entziehen zu dürfen.
*Den freilich auch China, alle westlichen Werte ablehnend,
habituell hervorzubringen in der Lage zu sein scheint.
Und wenn ja, dann frage ich mich, ob dieser Erfolg des chinesischen Systems es nicht auf Dauer, zunächst untergründig, destabilisieren könnte.
SMS//Zufällig aus einer Papierhalde gezogen/Soziale Ansteckungsgefahr (1902)31
Immer hocke ich allein hier rum.
Die ganzen Jahre schon.
Wirklich allein.
Manchmal macht’s mir sogar was aus.
Aber wenn ich mir vorstelle,
jemand wäre um mich herum,
dann ziehe ich es doch eindeutig vor,
für mich zu bleiben.
Ist ein Du doch Plage heute,
Langeweile,
statistische Monade,
bestenfalls Genuss-Ding,
Feind aber in jedem Fall
- wenn auch ungewollt -
als Überträger
des verhassten Allgemeinen,
als unberechenbares Opfer
seiner Außenlenkung:
eben der Ansprüche
des konsumkapitalistischen Universums,
die unzurechnungsfähig,
infantil, roh, ungezogen,
gierhörig und perfide machen.
Ich z. B. (1903)32
Rollenträger, Verbraucher,
Ich- und Selbstkonsument,
verhaftet dieser sanften Marktknechtschaft,
die mich steuert, enträtselt
und dann entlässt in ein kleines
unüberbietbar vereinzelungsträchtiges
Glücksgehechel.
Geschützt immerhin
vor der Brutalität des Menschen,
die doch sofort ausbricht,
wenn das Konstrukt aus gedankenlosen
hypermoralischen Selbst-Zueignungen,
somatischen Surrogaten
und materiellen Verschleierungs-Chancen
sinnmorsch zusammenbricht.
Daseins-Steuerung (1904)33
Wenn man alle diese einem tagtäglich
in seiner Ausgesetztheit
widerfahrenden Überwältigungen
wegnimmt:
Entmächtigungen, die einen zuweilen
nutzen- und spaß-radikal
von einem selbst abziehen:
Berufliche Belange,
mediale Verführungen,
Infantilisierungs-Knuten …
kurzum: die endlos durchexerzierte
konsumkapitalistische Dressur
(bis in die Geschlechtsfunktionen hinein) …
Dann begreift man,
in welch bedrückendem Ausmaß man
gehandhabt, missbraucht,
ausgebeutet, betrogen
und entmündigt wird.
Aber auch,
wie willfährig und unterwerfungsbereit
man selber sich verhält
gegenüber dieser heimlich ersehnten Fadheit
einer absurd-angenehmen Daseins-Steuerung.
Ahnend zumal, dass man sich ohne sie
gar nicht mehr zurechtfände …
Selig vor Glück auch,
sich selbst in ihr los zu sein.
SMS (31)//Zufällig aus einer Papierhalde gezogen (1905)34
Tarifexperten.
Selbst die
Glücksblasen
müssen es sein
heutzutage.
Schwartenledern zumal
vor Verwahrlosungs-Laune,
Entselbstungs-Trubel
und brosamenträger
Angebots-Lust.
SMS (27)//Zufällig aus einer Papierhalde gezogen (1906)35
Mich selber
verdeutschend,
entmächtige ich
unwiderrruflich
Geist
und Verfeinerung.
Unschärfen grölend
ins Umgefrohte
geschichtsloser
Lachgas-Kirmes.
SMS (22)//Zufällig aus einer Papierhalde gezogen (1907)36
Ich weiß nur,
die Stillen
rüsten zum Angriff.
Jetzt,
da genormte
Ekstasen
die Traum-Schnuller
verschmähen.
SMS (30)//Zufällig aus einer Papierhalde gezogen (1908)37
Die Stunde schlingert
zusammenhangsmüde.
Noch Schlimmeres ahnend,
päpple ich sie
formell wieder auf,
Verzweckungs-Narkosen
an sie verfütternd.
SMS (16)//Zufällig aus einer Papierhalde gezogen (1909)38
Die dunkelstimmigen
Zeitgeist-Sirenen
zersingen auch noch
die Rest-Psychen.
Empörungsokkult
sudeln sie nunmehr
spracharm dahin.
Engselbstlüstern
und sterilbrach.
Gewinnspiel (1910)39
Gewinnen Sie
den ultimativen Kick:
Eine computergesteuerte
sight seeing tour
durch den Vaginalkanal
einer prominenten
Porno-Queen.
Und hier Ihre Frage:
Wie viele Haare
enthält das Büschel,
das sich der Bundeskanzler
von Grau in Schwarz
tönen ließ?
Mehrdimensionale Unruhe (1911)40
So ein endlos sich schleppender Abend,
an dem man sich nicht gelingt.
Ständig wechseln die ins Leibliche
übersetzen Ziellosigkeiten.
Mal läuft man im Zimmer rum,
mal döst man im Sessel
oder sichtet Innenwelt-Bilder-Ströme.
Mal legt man eine CD ein,
mal schaltet man den Fernseher an,
um hin und her zu zappen
zwischen euphemisierender Diskussionsrunde,
Interviews mit leptosomen* und
weiß beturnschuhten Sport-Größen
und Talkshow-Prominenz,
die sich sprachwirr ergeht in
emotionshypertropher Polit-Metaphysik.
Und bei all dem weiß man genau
(ich jedenfalls weiß es),
dass sich darin auch
die eigene Orientierungslosigkeit
und der bodenlose Stumpfsinn
der Konsumdiktaturen,
in drastisch zerrende Unruhe übersetzt,
psychophysisch offenbaren.
*leptosom: schmal, schlankwüchsig
Meine innere Leere (1912)41
Nicht dass sie niederdrückte,
schmerzte oder
intellektuell behinderte,
meine innere Leere.
Sie macht nur gleichgültig,
gefühllos und faktenluzide.
Und das ist ein Vorteil
in Zeiten zynischer Moral.
Einsamkeit ist sie gewiss,
existenzielle Einsamkeit:
Abseitigkeit. Aber auch Zuflucht:
Die Gesellschaft zerfällt.
Am Morgen des 29. August 2003; ab ca. 7.45 Uhr (1913)42
Ich höre das Hämmern der Handwerker,
ich höre Autotüren zuschlagen,
Motoren surren,
das Holpern und Rumpeln der Lastwagenladungen;
ich höre Kindergeschrei und gedämpfte Stimmen.
Es ist kurz vor 8 Uhr morgens.
Antriebslos sitze ich vor meinem Computer.
Wenigstens ist das Fenster offen und lässt frische Luft hereinströmen.
Sie verdrängt den Wachs- und Reinigungsmittel-Geruch.
Der bevorstehende Tag macht mir Ekel.
Ich werde charakterlose Leute empfangen müssen,
korrupte Opportunisten und Schalschwätzer,
die sich gegenseitig decken,
um ihre Mittelmäßigkeit nicht allzu auffällig zu machen.
Aber es drückt auch die Sinnlosigkeit des verlotterten Wohllebens,
seine Verlogenheit,
sein Leerlauf,
seine kommandierende Aufdringlichkeit und Gemeinheit,
sein passivistischer Selbst-Genuss-Zwang -
Gründe auch für die schale Bedeutungslosigkeit meiner Berufsarbeit,
lähmend,
Ekel erregend,
Gewaltphantasien provozierend.
In Kultur soll ich machen,
Wissen und Bildung soll ich vermitteln,
diese seien Grundlage kommunaler Daseinsvorsorge,
ich soll die Leute zur Urteilsfähigkeit erziehen,
sie in den Stand setzen lassen,
sich mit den gesellschaftlichen,
wirtschaftlichen und sozialen Zeitumständen,
auch den sittlichen,
vernünftig auseinanderzusetzen.
Im Konsumkapitalismus aber läuft all dies zwangsläufig hinaus auf
Verbalklamauk,
allenfalls momentan ergreifendes Verbraucher-Geraune,
inszenierte Folgenlosigkeit jedenfalls und unbemerkten Selbstbetrug.
Pleonexie,
Entschämung,
Erregungshunger
und Gewissensabbau
dominieren kategorisch die
Restseelen.
Es fehlt die faszinierende Magie des irrationalen Selbstanspruchs.
Es fehlt der Ernst gegenüber sich selbst.
Es fehlt der Widerstand gegen totalitäre Vereinnahmung und gegen
Vermittelmäßigung,
er fehlt gegen die Tyrannei des Faden,
die Herrschaft von Phrase,
Propaganda und Leerformel.
Die Führungsschichten ergeben sich schleichend immer mehr einer
subtilen Infantilisierung und Korrumpierung,
einer sie und ihre Klientel verwahrlosenden Hypermoral Macht
kreischender Leistungsvortäuschung,
hundertbödig pseudoklug und doch von erbärmlicher Simplizität.
Affekt-Diktaturen.
Hedonistischer Utilitarismus:
Nutzen oder Lustträchtigkeit.
Mittelos.
Perfektionierungs-Neurose:
Die aufwandslose,
die billige,
die all-zugängliche,
die egalitäre Herstellbarkeit von Körper und Bewusstsein.
Vergegenständlichung,
Veraugenblicklichung,
Versachlichte Verkümmerung,
Entwirklichung,
Entborgenheit,
Entselbstung.
Wie gerne wäre ich ein anderer;
wie gerne auch ganz anderswo;
nicht so ein überwacher Wanderer,
der zudem weiß: Es geht nur so.
Der Umstand macht doch die Gefühle;
und das, was denkt, folgt stets nur nach;
man sucht sich ewig selbst nur im Gewühle;
und hat man sich, dann höchstens brach.
Man phantasiert sich eine Welt zusammen;
doch was man trifft, das sei dahingestellt.
Man ist das Werk von vielen Ammen,
nicht einer Wahrheit auch nur zugesellt.
Bis zum bitteren Ende (1914)43/Vergl. (64/3366), (72/3846), (74/3970)
Dass es nur geistig tiefe Glücke gäbe,
das stimmt mitnichten so.
Es gibt auch die: Erotisch-asoziale Leibgewebe.
Nie kalt und nie verbraucherroh.
Sie gleiten traumverhangen durch die Stunden.
Sind zügellose Fleischgebete.
An machtbefreite Gier gebunden,
in Gott verbracht von Tyche und von Lethe.
In diesem metaphysisch dann geborgen:
Erlösungsdrogen gleich.
Vollendung ohne Sorgen
in einem hautdiktierten Drangsal-Reich.
Ach hochbegabte Unscheinbare,
komm noch mal zu mir vor dem Ende.
Auf dass sich dann auf meiner schwarzen Bahre
ein Sehnsuchtskleinod deiner Mitte fände.
Für diese: … Meine mich lebenslang gehalten habenden Existenzpreziosen/Ein schlichtes Gedichtchen (1915)44
Katzen, Wind, Gedichte, Gott, (O)
Geist und Eros, Einsicht und (U)
Sinn für Fakten - unbedingt -, (I)
machten mir erträglich Trott,
selbst den beispiellosen Schund
wie er heute uns gelingt:
Seelisch-geistiges Schafott,
auf dem Würde sich tut kund,
ehe sie global versinkt,
als der Tugend Markt-Komplott,
leere Formel, wesenswund,
weil grad Sapiens sie nichts bringt;
ist er menschlich doch bankrott
treibt’s schon lange viel zu bunt,
freilich weil er mit sich ringt:
unfrei ist, nur Teilchen-Schrott,
kommt zu oft auch auf den Hund:
weil notwendig sich verschlingt.
OUI, OUI, OUI, OUI, OUI und OUI: Ein sechsfaches Ja
zu einer immer fragwürdiger werdenden Welt.
Der desorientierte narzisstische Zeitgenosse (32/1916)45
Muss sich letztlich inszenieren,
Selbstwertreiz sich zu ergaukeln,
kann nicht kompensieren,
dass längst alle Halte schaukeln,
alle Werte mehr und mehr
geltungslos verblassen …
Unverbindlich, sinnlos, leer
weichen mussten marktstreng krassen
Formen von Beliebigkeiten:
Traummohn für Effektmonaden,
die subtil frigide gleiten
durch ein Meer von Deutungsschwaden.
Sich Phantasmen zu ergieren
Drogen aus Erlebnismassen …
Spaßtrost ohne Gegenwehr.
Was mein spätes Dasein in meinem hybrisdekadenten Land betrifft … (1917)46
Obschon nur atomares Stoffgefüge:
Determinismus, Zeit, Verfall.
Zumal nie ohne Lebenslüge:
Versagenszwang als Marktspielball …
darf ich mir dennoch ohne Täuschung sagen,
dass es insofern habe sich gelohnt,
als ich es durfte geistig tragen.
Und so von Welt blieb unberührt …
von Du, Gesellschaft, Medienplagen,
von Tugendarroganz verschont.
Durch Einsichtskraft und Faktensinn geführt,
die beide haben dies betont:
Dass unterwühlen typisch deutsche Plagen
dies autoabusive* Staats- und Rechts-Gefüge,
das sich in Selbsthassmasochismus
anonym verliert.
*autoabusiv: sich selbst missbrauchend
Behelfs-Null (1918)47
Wenn jene Sehnsuchtsfluten früher Tage
zuweilen leise noch mal gottwärts rauschen,
darf ich vergessen diese fade Lage:
muss nicht geplante Ich-Vollzüge tauschen,
sich Inhalt zu ergaukeln, der sie trage …
Darf ich verlassen dieses Gram-Gelage,
wo Krüppelseelchen zur Person sich bauschen,
sich zu verhehlen ihre Daseinsplage.
Indes mich jene an Gestade spülen,
in deren Sanden Gottes Spuren weisen
den Weg zu Geistgeborgenheitsasylen,
wo niemand muss sich als Gewinner preisen,
sich allen andern überlegen fühlen,
um als Behelfs-Null um sich selbst zu kreisen.
cloaca maxima (1919)48
Was soll ich denken, wollen,
fordern, wählen?
Es ist doch nichts mehr da,
auf was man setzen dürfte,
auf was man könnte
ohne Zögern zählen…
Das Ganze ist
Effekt-Blabla
und liegt in letzten Zügen.
Ist man doch selber
sich verschollen,
vergebliches Nachinhalthetzen,
orientierungsloses Nein wie Ja,
befohlenes Ergötzen …
Enthemmende cloaca maxima*.
*cloaca maxima: Teil des antiken Kanalsystems in Rom.
Mündung in den Tiber.
Verfügte Geist-Gravuren (1920)49
Asketisch-monoman
mich dieser Welt verweigert,
das hab ich in der Tat;
hab geistig-metaphysisch
mich gesteigert,
Subjekt-Synthese ohne Rat,
Sinn, Halt … Kurzum:
Bedeutungsspuren.
Das muss so sein,
ist’s doch ein Seins-Diktat:
Sind’s doch
verfügte Geist-Gravuren.
Bedeutungsspuren, soll heißen: Ich, als Geistwesen, spure mir selbst Bedeutungen zwecks Meisterung meiner Existenz; das aber sind keine autonomen (freien) Akte.
Verfügte Geist-Gravuren meint: Von „genetischer Gnade“ mir zufällig geschenkte Persönlichkeits-(Geist-) Merkmale, die mich notwendig zu dem gemacht haben, was ich mir bin: Transzendental (vor aller Erfahrung vorhergehende), determinierte Synthesis von Kreatürlichkeit, Ich-Selbst (s. Fremdwörterverzeichnis), Ratio, Vernunft und Geist, gesellschaftlich und sozial dann „feingeschliffen“, zum Tragen gekommen, wirkmächtig.
Mittelmaß-Galeere (1921)50
Was ich höre,
was ich sehe,
lausche ab auch Zeitgeistwogen,
ist,
was ich primär verstehe,
ein Sozialraum,
krass verlogen,
sich entfremdet,
tief gespalten,
nicht mal mehr
durch Spaß zu halten …
Eine psychische Misere,
ohne Wert-Kitt:
Mammon-Traum
Hochkorrupter ohne Ehre:
Macher ingeniöser Leere …
Fake-Trust von Gewissenskalten …
Mittelmaß-Galeere.
Daseinswidersprüche/Sonett (1922)51
Noch mal: So was wie Schuld, das gibt es nicht.
Sind wir doch Stoffgefüge, außerstande,
uns selbst zu fassen, gar auch frei zu lenken …
Sind Perspektiven-Träumer, sinngebunden.
Das gilt auch für die rationale Schicht,
Pleonexie-Magd bis zum Grabesrande:
Im Dienst des Körpers muss sie sich verrenken
doch Kreatürlichkeit, prekär geschunden.
Indes uns manchmal Selbstansprüche treiben,
von Stolz getragen, diesem Geist-Affekt,
nicht immer Spielball, Knecht und Tier zu bleiben,
um dann, von Selbstverachtungsscham geweckt,
uns fraglos eine Würde zuzuschreiben,
von Selbstdistanz als Ichsuchtbann gedeckt.
Die gegenwärtige Gesellschaft III (1923)52/Sonett
Verdummt werd ich, werd ausgebeutet und betrogen.
Man speist mich ab mit leerer Worte Phrasen;
Versprechen, die wohl gar nicht einzuhalten sind.
Kurzum: Ich bin wie alle auch Parteien-Beute.
Von wem? Sozialstaatsklerikern, Ideologen,
von Kirchen, die ins Horn der Nächstenliebe blasen,
mich arrogant belehrend wie ein kleines Kind …
Damit ich ihren Machtgelüsten mich vergeude.
Indes gewöhnt, wenn’s geht, auf mich allein zu zählen
- Gesellschaft, das ist Egoismus, Machtsucht, Selbstbelang …
ein Dauerringen ohne Sinnzusammenhang,
verurteilt dazu, irgendwann sich zu verfehlen -,
um einsichtsmächtig weniger mich abzuquälen
mit Kreatürlichkeit und irgend Hoffnungs-Drang.
Grundgefühl (1924)53
Irgendwie scheint alles brüchig,
ungreifbar und doppeldeutig;
alles Gelten abusiv*;
alles zumal schwerstanrüchig,
perspektivisch gegenfreudig:
nichtig exzessiv.
Mir z. B. kann’s passieren,
dass ich Innenwelten lese,
die sich wollen selbst zerfallen,
aufgelöst zu potenzieren
ihre Zweckramsch-Zwangsaskese
internalisierter* Krallen.
*abusiv: missbräuchlich
*internalisieren: verinnerlichen
Geistige Weltflucht als Entlastungsdroge (1925)54
Dass ich spönne, sagen Sie?
Überkritisch asozial,
sei gar geistiges Verderben?
Zeigend unsre Phrenesie*,
diesen Bund von Leib und Zahl,
Sinnverlust und Seelenscherben
als Verknechtungs-Lust-Magie?
Schwerstnarzisstisch-agonal,
Sinn-Fiktionen uns zu färben?
Um es Ihnen anzudeuten:
Ich darf all dem mich entziehen:
Mich in Geistgefügen zu vergeuden,
was als Gnade mir verliehen,
mitgegeben ist von Seinszufällen:
Droge, Privileg, Entlastungsfülle,
mich nicht um mich selbst zu prellen
in den Gossen jener Gülle.
*Phrenesie: Wahnsinn
Jenseits der Farce dieser unsolidarisch-gewissensarmen Gesellschaft (Sonett) (1926)55
Mit der Gesellschaft hab ich abgeschlossen.
Um mir allein, nur noch für mich zu leben.
Der Grund? Sie ist mir fremde Selbstwertplage,
hysterisch-aggressives Dauerlärmen.
Die Menschen sind sich selber ausgegossen,
was sie ermuntert auch, sich zu erheben
zum höchsten Sein, das nichts mehr überrage,
an Tugend nicht und nicht Erlebnishärmen.
Und da ich nur noch ein paar Jahre habe,
will ich, dass das genauso weitergehe:
Ich Vorteil ziehe aus der höchsten Gabe …
Dem Einsichtsreich. Dass es mir Kräfte säe,
die mir gegeben seien bis zum Grabe:
Bis ich, erlöst, dann wieder Stoff verwehe.
Geist vs. Narzissmus (Sonett) (1927)56
Bejaht hab ich mein Dasein nur des Geistes wegen,
dem ganz allein verdanke ich so was wie Halt.
Und der mir darum immer als das Höchste galt.
Zumal der Herkunft er stand radikal entgegen.
Und jetzt, im Alter, kann ich nur durch ihn abwägen,
was könne sein mir noch entlastende Gestalt,
mich zu bewahren davor, dass die Menschen kalt,
Entseelte wurden durch des Marktes Allgewalt.
Zumal ich weiß: Das Geistige ist folgenlos.
Grad dann, wenn sich Narzissmus zeigt als Barbarei,
die er im Wesen ist: An ihm ist gar nichts groß.
Er ist als reine Gaukelei gewissensfrei,
was ihn als selbstzerstörerischen Zwang legt bloß,
als wesensdorrend primitiven Ichaufschrei.
Die Verkümmerung der Volksherrschhaft (Sonett) (1928)57
Demokratie? Da diese Diktatur
der Waren, Formeln und der Gossenwerte,
der Lügereien unterm Tugendschwerte
des Phrasen-Ping-Pongs als Entlastungskur
auf emotionsgespickter Beutetour,
gespurt für sprachlich-geistig Ausgezehrte,
die erst das X und dann das Umgekehrte,
am Ende Z bejubeln … Von Natur!
Darum geht’s nicht, dass man sein Leben führe.
Auch nicht um Fakten mehr als Daseinsweichen,
auf dass man eine Wirklichkeit berühre,
sich selbst so nicht verliere nur an Zeichen
als Überbauprodukte einer Schmiere,
die Spaßdunstrelevanz sich muss ja eichen.
Prosafetzen (398) (1929)58
Wenn ich auch ein ereignisloses Leben führe,
wenn ich auch,
auf mich allein gestellt,
weder auf Freunde noch Bekannte zählen kann,
wenn ich auch unfähig bin,
ein substanzielles Interesse an einem Du aufzubringen,
wenn ich auch,
es mag sich beziehen worauf immer,
nur geringes Vertrauen in meine Artgenossen setze,
wenn ich auch nicht dem flachschichtigen Optimismus
des spiel-, spaß- und phrasengelenkten Verbrauchertums fröne,
wenn ich auch auf Glaube,
Liebe und Hoffnung,
wie überhaupt auf alle Ismen,
nichts gebe,
wenn ich auch wegen meines ätzenden Intellektualismus
regelmäßig Neid,
Feindseligkeit und Hass ausgesetzt bin,
so bin ich doch nicht den ethischen und ideologischen Idealen
der bürgerlichen Intellektuellen verfallen,
so bin ich doch nicht den Lockungen
der gängigen Wohlstandsbanausie auf den Leim gegangen,
so bin ich doch nicht den Phrasen und der Propaganda
von unfähigen oder narzisstischen oder
machtinbrünstigen oder selbstverzückten Politikern
intellektuell und psychisch erlegen,
um mich am Ende selbst zu manipulieren,
so bin ich doch klug genug gewesen,
meine ökonomische Abhängigkeit
von mancher provinzstädtischen Niete hinzunehmen
(auch, um meine Neigung zu Gewalt und Zerstörung
nicht zum Tragen kommen zu lassen),
so habe ich mir doch Respekt, Distanz,
Anerkennung und sogar Bewunderung verschafft,
habe mich so vergleichsweise selten selbst verraten
und im Stich gelassen,
habe mich nicht vereinnahmen lassen von Cliquen,
Parteien, gewohnheitsbetroffenen Tugendsensiblen
und wohlmeinend naiven bürgerlichen Wertträgern,
habe, einen von mir selbst ungeliebten Beruf ausübend,
den gesellschaftlichen Anforderungen Genüge tun
und für mich selber sorgen können,
verspüre ich keinerlei Neigung,
meine Erfahrungen zu verleugnen,
meine Einsichten zu unterdrücken,
meine Haltungen aufzugeben,
bloß um mir andere gewogener zu machen;
vielmehr beharre ich darauf,
dass z. B. Pleonexie, Perfidie, Rohheit und Bestialität
fundamentale Tatsachen unserer Existenz sind,
darauf,
dass zwanghaft und
gewohnheitsmäßig zu beschönigen,
zu verdrehen,
zu verdrängen,
andere zu täuschen,
sich selbst zu betrügen
und notorisch zu lügen
eine notwendige Voraussetzung einigermaßen
gelingender Existenzbewältigung darstellt,
bemerke ich wahrheitsgemäß dies,
dass ich,
euch und mir selbst zum Trotz,
ein zeitweise herrliches,
ein geistig geradezu vollendetes Dasein
zu führen imstande war.
Momentaufnahme (1930)59
Alles wurde undurchsichtig,
hoch umstritten, ungreifbar,
scheint nur je nach Lage richtig:
Weder falsch noch wahr.
Keine Selbstverständlichkeiten
sind noch auszumachen.
Das macht, dass sich Psychen scheiden
in Erstarren und Verflachen.
Teils auch sich mal aufzulösen …
Fun world-Detektoren:
Asoziale Größen
auf Entschämung eingeschworen.
Prosafetzen (396) (1931)60
Na ja, ich hab die Leute
schon verstanden:
Man muss sich eben
anbequemen
auch manchmal
ziemlich scharfen Kanten,
um letztlich sich nicht
selbst zu lähmen:
Man muss da durch doch
alle Stunden,
durch dieses hochkomplexe
Marktgefüge.
Und manchmal heulen also
mit den andern Hunden,
dass, was man braucht,
auch wirklich kriege.
Beobachtungen (1932)61
Die Träume sind schal.
Und die Glücke
sind’s auch: Erlebnisfanal
als Entlastungs-Hauch.
Das Dasein ist leer.
Und das ist es ganz.
Ist Fakten-Abwehr
als Selbst-Ignoranz …
Gekünstelt und seicht,
dass magisch es sei.
Auf Schübe geeicht
von Effekt-Gaukelei.
Heimweh nach Entwerdungsruhe (Trias C) (1933)62
So sehr ich auch
Sehnsucht nach dir habe -
Wärst du jetzt hier,
zerstörtest du mir
unweigerlich
diese scheue Freude,
die mir dieser stille
Sommermittag gewährt,
Wolken der frühesten
und Wolken der spätesten Tage
zusammenführend
unter der majestätischen
Indolenz blauer Vergänglichkeit.
Ratschlag II (1934)63
Lang hin! - ich will’s
dir dringend raten -
und nimm dir,
was dir zustehn soll.
Denn irgendwann
sticht auch für dich
der Spaten
ins Erdreich,
nichtend allen Groll,
des Daseins Gier,
des Daseins Bann
und schweigend auch
dich kleines Ich.
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