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Diese Seite enthält 55 Gedichte (Prosa-, Reim-Gedichte und Sonette)
Dass der Mensch ein moralisches Wesen sei (1) (928)1
Alles das ist null und nichtig.
Alles Illusion.
Nichts davon ist richtig.
Alles das ist Großhirn-Hohn.
Trägt der Mensch nicht.
Ichknecht doch.
Kann nicht leben Selbstverzicht.
lebenslang sein eignes Joch.
Liegt ja auch nicht viel an ihm,
diesem rationalen Affen.
Bleibt als dieser anonym.
Selbst sich doch verfügtes Raffen.
Als die Sucht zu überragen.
Andre möglichst auszustechen.
Nicht zu hinterfragen,
dass er ist ein Stoffgebrechen*.
*Materie-/Hyle-Gebilde. Durch und durch
Dass der Mensch ein moralisches Wesen sei (2)/
Sonett (929)2
Es ist ein Faktum, dass ich unfrei bin:
Materie aus Quarks und Elektronen,
dass diese Existenz hat keinen Sinn,
weil alle wir in Zufalls-Leeren wohnen.
Determiniert, uns selbst nur zu belohnen.
Wir treiben haltlos durch uns selbst dahin,
Pleonexie verfügt uns Selbstgewinn …
Verstandesknechte, die als Zwang sich fronen.
Indes mir all das schlug zum Vorteil aus:
Konditioniert, mich Geistmacht hinzugeben
in einem neuronalen Traumwelthaus,
in dem Verschaltungslose so mich weben,
aus Weltenwirren mich zu halten raus:
Mir deren Leeren ins Gedicht zu heben.
Fragen (930)3
Worüber reden,
was besprechen.
sich womit
auseinandersetzen?
Moral herbeten,
Phrasen zechen,
an Illusionen
sich ergötzen?
Da zeigen sich
die tiefen Gräben:
Die zwischen
Zeitgeistzwang,
Gegebenheiten,
Ideologie:
Dass viel zu viele
in Phantasmen schweben,
Schimären reiten
durch System-Magie.
Antworten (931)4
Sich hingebracht als Trauerlunte,
Verlogenheit, Gewalt und Schein,
als Perfidie und Gleichungsschrunde,
ein Leben lang allein …
Lass das Gebarme und bedenke,
dass du es doch begriffen hast:
Als Blende einer Deutel-Tränke …
Als Daseinsschicksalslast.
Wofür man immer es auch halten mag,
es ist doch Zufallsgaukelei.
Verwirrend einen Tag für Tag
als Wertschimäre und Entlastungs-Blei.
Phantasie-Ausfluss (932)5
Ich hab mir
eine Welt errichtet,
in der ich leben kann,
so wie ich muss.
Sie mir geradezu erdichtet
als reinen Phantasie-Ausfluss.
Mir selber zu entrinnen
und realen Welt.
Weil man in der sich
nicht mehr kann gewinnen,
als Einheit stumm zerfällt:
Klamauk und Perfidie
anheimgestellt.
Nachteile des Systems (933)6
Ich sag’s mal so:
Da kommen Leute hoch,
die gar nichts können,
gar nichts taugen,
verwechseln dann auch
A und O,
sind ohne Selbstbestand,
Funktionsrabauken.
Auch sind da Leute
aus der dritten Reihe,
die das System
nach oben brachte,
die gerne mimen sich
als smarte Haie.
Sich selber
bildungsarm entfachte …
Ich würde sagen
Dilettanten …
Ich könnt auch sagen
Showtime-Spekulanten,
sich selbst narzisstisch
radikal abhanden.
Anonyme Faktenlage (934)7
Sich selber
kann man nie entrinnen;
sich ausgeliefert lebenslang;
in sich allein schon so
basal gefangen:
Gehetzt von
Widersprüchen und Fiktionen,
von Sinnsucht-Perspektiven
und Sozial-Konstrukten;
von Träumereien
und von Drangsal-Wirren …
Verfehlend sich,
doch einheitsloses,
zerrissnes Ich,
das sich vergeblich müht,
zu meistern
seines Daseins Bodenlosigkeit:
Globalen Mammon-Fatalismus,
selbstsiechschmierig.
Und tugendhypertroph substanzverlogen;
durch Gossen tobend*
fader Wir-Ekstasen.
*Variante der beiden letzten Zeilen:
"durch seine Gossen tobend
deutungsloser Phrasenräusche“.
Liebe - wesensperspektivisch (935)8
Ich habe einfach mir was vorgemacht.
Ich habe mich betrogen.
Ich habe nämlich nicht bedacht,
dass Trieb mich und Magie verbogen.
Die vor dem Alltag rasch vergehen.
Die vor Versachlichung zerstieben.
Die ohne Aussicht auf Erfolg bestehen.
So werden aufgerieben.
Bevor Entfremdung greifen, Schweigen, Hass,
zieh ich die Konsequenzen.
Man fühlt sich selbst nur, träumt nur, dass
man fähig sei, in Du sich zu entgrenzen.
Das geht nur, wenn man Plackereialltäglich Rechnung tragen muss.
Und Liebe Folge dieser Mühle sei,
die beide plagt, sie zwangsschier trägt dann bis zum Schluss.
Offenlegung (936)9
Du magst es fühlen, wie auch immer.
Du magst es rational gar planen.
Es gibt kein Dasein ohne Daseinstrümmer.
Man muss sich auch durch Illusionen bahnen.
Jetzt dieser Kundenbarbarei
des asozialen Niedergangs.
Verfügt als lustkompaktes Einerlei
verwertungsmystischen Epochenzwangs.
Wir alle müssen Nullen zählen.
Eliten, Massen, Lippennarren,
um sich für diesen Kundenkampf zu stählen:
Sich Ramschgold zu erscharren.
Um es ganz ungeniert herauszusagen:
Nur surreale Ochlosposse,
sich Surrogate zu erjagen
anankeschwerer Leichtlauf-Gosse.
Indes ich hab’s zuletzt ganz gut gefunden,
gedenkend der stupenden Gnade
von 70 Jahren ohne Leid und Kriege.
Belämmerungen nur entbunden:
Dem Sinn-Kult einer Sandstrandliege.
Doch das vergeht nun. Das ist schade.
War immerhin die Bestie doch gezähmt.
Durch Wohlstand, Rechtsstaat und durch Volksherrschaft.
Das hat was. Auch wenn’s geistig lähmt.
Notwendig so sich wieder selbst abschafft.
Bilanzgedicht (27) (937)10
Bin geistig ziemlich ausgelaugt.
Bis faktisch hin zum Ekel.
Zumal die Wirklichkeit vertrödelt wird,
missachtet sei’s von Indolenten,
sei’s auch,
was schlimmer ist,
Charakterlosen.
Von Ramschdebilen,
die verwahrlost sind.
Narzisstisch eingekesselt
von sich selbst:
Subtiler Kreatürlichkeitsbedrückung.
Alternativen (938)11
Es ist immer noch besser
- das wäre die erste Alternative -,
sein Leben als irrationale Marionette
und triebgegängelte Körpermonade
unter einer demokratisch verfassten Konsumdiktatur
hedonistisch wohllebensgierig zu verschludern
- zugegebenermaßen angenehm;
und vor allem: faktenrational -
als - und das wäre die zweite Alternative -
unter der Willkür und Fuchtel eines Despoten
oder eines Partei-Totalitarismus,
seiner selbst benommen
- und sei’s auch wirtschaftlich und sozial privilegiert -,
angstbesessen und mundtot gemacht,
bevormundet und dauerüberwacht,
sich selbst entfremdet dahinzusiechen.
Dabei ist die erste Alternative
gerade um so viel besser als die zweite,
als jene Konsumdiktatur einen nicht prinzipiell
- genau genommen: überhaupt nicht -
daran hindert,
sich einem Lebensvollzug zu verschreiben,
welcher sich gerade nicht nur in Pleonexie,
Selbstaufgabe, Verwahrlosungsanfälligkeit
und sich selbst bewahrender
Entfesselungs-Entlastung erschöpft,
einem Lebensvollzug zumal,
den man sich gar nicht ausgesucht hat
(gar nicht aussuchen kann)
- weil er bewirkt,
dass man sich (innen-, d. h. kernkommandiert)
gegen den allgemein als normal empfundenen stellt -,
einem Lebensvollzug mithin,
der sehr wahrscheinlich Ausdruck ist
auch eines genetischen Grundbefehls
(den man nicht begründen kann),
sich geistig-metaphysisch und eben nicht
rational-utilitaristisch-mammonmaterialistisch
auszurichten.
Noch einmal:
Konsumdiktaturen sind verführungstotalitär.
Despoten- und Partei-Diktaturen
sind kommandototalitär.
Die ersteren beuten einen ökonomisch aus:
Vernunftlos kreatürlich.
Die letzteren formen und zwingen einen panexistenziell:
Als Person überhaupt: Gegen sich selbst.
ZINSJA (76) (939)12
Entkernter Hochkulturen Epigone,
bin ich ein Dasein ohne Wirklichkeit:
gezielt verkümmerte Gewissenszone
und würdeloser Markt-Bescheid.
Gehirn- und Körper-Potential:
Ein exemplarisches Gepräge
von Ich-Besessenheit und Selbstwertqual.
Gebettet in der Hege
von Technik, Wissenschaft und Kapital.
Heteronom so noch als Triebgefüge.
Ein Büttel von gesollter Lust.
Subjektivierte Lebenslüge,
als Abklatsch seiner sich bedrückt bewusst.
ZINSJA (86) (940)13
Gewalt ist
die unmittelbarste Tatsache
menschlicher Existenz.
Und wehe dem,
der meint,
ihrer Herr werden zu können
durch ethisierende Phrasen,
Anfälle von Fairness-,
Menschlichkeits- und Mitgefühls-Schauern …
Gar Anwandlungen
selbstentäußerungslüsterner
Sentimentalität.
Proletariat (941)14
Nicht einer von denen, die ich kannte
(und ich kannte nicht wenige),
der geträumt hätte von einer sozialistischen Gesellschaft.
Von einer solchen Gesellschaft wollten sie
einfach nichts wissen.
Warum, das begründeten sie nicht.
Ihre - teils vehemente - Ablehnung war eine gefühlsmäßige.
Und das emotional verdichtete Resümee ihrer Lebenserfahrungen.
Sie ahnten,
dass die Ideale der Gleichheit und Gerechtigkeit,
das Ideal eines Neuen Menschen gar,
Intellektuellenphantastereien seien.
Vielleicht als Fernziel in einem Parteiprogramm stehen durften,
aber niemals als Leitlinien zum Zwecke der Bewältigung
von realen gesellschaftlichen Problemen dienen konnten.
Ihren Kindern sagten sie,
dass es ihnen einmal besser gehen solle als es ihnen,
den Eltern, gegangen war und ging.
Die Kinder sollten etwas werden,
eine Lehre machen, sich anstrengen,
Leistung erbringen, sich durchbeißen.
Das führe zu mehr Wohlstand, mehr Freizeit,
mehr Ansehen.
Es würde sie hinaufführen auf der sozialen Leiter.
Wenigstens ein Stückchen.
Kurz: Ihr Ziel war ein höherer Lebensstandard.
So wie oben auch.
Nur eben in viel bescheidenerem Rahmen.
Und den, diesen Wohlstand, so vermuteten sie wohl,
könne nur ein machfrageorientiertes kapitalistisches Konkurrenzsystem,
niemals aber eine sozialistische Planwirtschaft schaffen.
Für sich selbst wollten sie - in einem eher bescheidenen Rahmen -zunächst einmal Arbeitszeitverkürzungen, mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen.
Sie hofften, noch einmal, dass sie auf diese Weise
ihren Lebensstandard würden heben können.
Und sie haben sich nicht getäuscht.
Seltsam wie nahe sich innerlich
die unten und die oben einmal waren,
wenigstens in diesem Punkt des Strebens
nach einem materiell verbesserten
und also angenehmeren Leben.
Und das ist wohl ein wesentlicher Grund für das Gelingen
des deutschen Wirtschaftswunders nach dem 2. Weltkrieg - abgesehen von seiner Funktion als Entlastungs-Verdrängen.
Beide sind sie freilich historisch überholt worden.
Es gibt keine Arbeiterklasse mehr,
auch keine der Kapitalisten.
Es gibt nur noch narzisstische Kunden,
Investoren, Manager, share holder,
smarte Banker und optimistische Technokraten.
Und selbstverständlich politische Leerformeljongleure,
sei’s am Gängelband von Großkonzernen
mit potenzieller Selbstüberschätzungs-Mentalität,
sei’s an dem von verflachungsbetörten Schnäppchenjägern:
Diese sichern, womit sich jene schmücken: Wohlstandsgenerierung.
Doch das kann nicht gut gehen auf Dauer.
Genauso wenig wie der Vernunftoptimismus und Gleichheitsradikalismus wohlmeinender Volksvertreter,
die, als Realitätsverwerter, Sozialtherapeuten und Tugendwirre, das Land herunterbringen:
Ihre Werte werden freilich zerbröseln
vor zunehmend anomen Verhältnissen:
dem Versagen des Souveräns,
der Indolenz des Spaßkult-Barbarentums,
der Irrationalität von Tyrannen
und der kratischen Überlegenheit
eines kompromisslosen Partei-Totalitarismus.
Einmal ganz abgesehen von der Unlösbarkeit der Probleme, die die westliche Ersatzreligion
des hedonistisch-dauerkonsumierenden Subjektivismus heraufbeschwor:
kulturellen,
ökologischen,
machtpolitischen,
existenziellen usw.
Das Destruktionspotential und die Sinnlosigkeit
einer technologisch-naturwissenschaftlich bestimmten Welt
liegen nämlich auf der Hand.
Können also nur diktatorisch-tyrannisch scheingelöst werden …
Also gar nicht.
Jugendjahre/Andeutungen/Für Hellas und Friedrich Hölderlin/Ein Dankgedicht (942)15
Mir selbst, verzweifelt, ganz egal,
ließ ich mich täglich treiben;
ein stummes Außenseiter-Mal;
in dunklen Gassen und in Zockerkneipen.
Ich hätte selber nichts, ja: nichts
auf mich gegeben:
Als Typus eines asozialen Wichts
von krankem Selbstverachtungsstreben.
Bis ich das Schicksalslied Hyperions dann hörte.
Die dritte Strophe. Hölderlin-Gedicht.
Die mich erschütterte, im Kern betörte;
bis heute Wahrheitstrost mir flicht.
Ein Nichts bin ich indes geblieben.
Doch geistbegabt; dem alten Hellas auch verdankt.
Von dessen Größe über mich hinausgetrieben
in Reiche, wo kein Leid belangt.
Europa (943)16
Europa redet, lobt sich, träumt;
zumal’s an Faktenignoranz auch leidet.
Und folglich permanent sich selbst versäumt,
sich mehr und mehr entgleitet.
Ist’s Überdruss an sich? Ist’s Arroganz?
Ist’s Lust am Untergang? Ist’s Tugend-Dekadenz?
Ist es ein Mangel gar an Selbstdistanz:
resignativ-korrupter Ungeist-Trend?
Ich weiß es nicht; kann’s nur erahnen.
Identität fehlt ihm; ist scheinbar wertbewusst.
Fährt, einheitslos, auf viel zu vielen Bahnen:
Es wird an Schulden scheitern, Einfalt, Macht-Verlust.
Species (homo sapiens) (944)17
Schon weit - so las ich’s - über 8 Milliarden.
Es würden aber noch viel mehr.
Was kann ich andres da erwarten
als Mord und Todschlag, die einher
mit Grausamkeiten werden gehn wie nie
(was ihre Häufigkeit dann anbelangt).
An Seuchen denke ich, an Hunger, totes Vieh,
dass man um Rest-Ressourcen zankt.
Mit dann barbarischer Gewalt,
so wie auch sonst zu allen Zeiten.
Es wird ums Ganze gehen: Selbsterhalt:
In Bestien-Stumpfsinn Gleiten.
Doch sagen kann ich nichts dazu.
kann auch kein Mitleid haben.
Weiß nur: Noch wabert‘s als Tabu,
verdrängend sich
an Selbstverlust zu laben.
Propaganda-Objekt (945)18
Ununterbrochen ausgesetzt
Reklamesprüchen (Glücksanreizen),
Politleerformeln, news, Moralbegriffen
und Existenzbesagungsinterpretationen …
auch alltagstrivial doch hin und her gehetzt:
beruflich mich betriebsgerecht zu spreizen,
zumal, medial zurechtgeschliffen,
die Heiligkeit des Zeitgeists zu betonen …
beschleicht mich manchmal das Gefühl,
das alles solle meiner mich berauben,
mir aufzuzwingen einen Lebensstil,
berauscht von kalkuliertem Glauben
an Marktsymbiosen als Erlösungsweisen:
Mir selbst entfremdet zu entgleisen.
ZINSJA (41): Geist-Leib-Einheit (946)19
Den Kairos* nicht zu ergreifen:
augenblicklich, ohne Zögern,
um dann, ist’s zu spät, zu keifen,
dass man ihn ließ ängstlich schleifen,
wollte lieber sich verhökern
gängig-sichrem Stoff-Konsum,
ist ne Dummheit, ist posthum*
nichts was einem schüfe Ruhm,
teilend zu den Selbsterregern,
die am Ende lieber kneifen
als auf jenen zu vertrauen,
dass er würde Glücke bauen,
lebenslang nicht zu vergessen,
wandelnd noch in späten grauen,
tristen Tagen Daseins-Blässen
um in die sakralen Messen
bannerotischer Ivressen:
Noch mal Geist-Leib-Einheit
zu erschauen.
*Kairos griech.: der nie wiederkehrende günstige Augenblick,
den es unbedingt zu ergreifen gilt; hier im Sinn von
„Gotteschance/gottgewährte Chance“ gebraucht
*posthum lat.: hier: danach
Selbstsucht-Leere (947)20
Zu sagen, dass es letztlich sinnlos sei,
das ist, genau genommen, trivial.
Ich meine dieses Wohlstands-Einerlei,
das letztlich fußt auf Gier und Zahl.
Da muss das „sinnlos“ nicht empören,
zumal es objektiv genau so ist:
Man soll sich nur noch selbst verzehren:
als eingefleischter Egoist.
Dann lässt sich jene Sicht doch nicht vermeiden
Man wird auf sie geradezu gestoßen.
Denn nur durch Gier und Zahl zu gleiten,
bewirkt, sich selbst nur noch zu kosen.
Indes will man doch Welt gewinnen,
will Glück, will Einsicht, irgend Halt.
Tatsächlich leben wie Sinnen.
Und nicht nur ich-krank-einsam-kalt.
Tabu I (948)21/Vergeliche (73/3882)
Ich bin, wie du,
ein Kind der Zeit.
Ihr, so wie du,
brachial verhaftet.
Wie du Monade,
Ding und
Tauscheinheit,
die diese
Selbstenteignung
nicht verkraftet.
Doch das
muss bleiben
ein Tabu.
Selbstlast I (949)22
Kein Halt. Kein Sinn.
Verdeckter Selbstmord wohl auf Raten.
Ich lebe freudlos vor mich hin.
In Hellsichtwogen unter Marktdiktaten.
Kaum Antrieb noch,
den Alltag halbwegs durchzuhalten.
Schon beim Erwachen zwingt das Joch
der seelisch feineren Gewalten.
Der Druck des Ich:
Ich muss mich selbst erdulden.
Nach Grundbefehl; und also wesentlich.
Mir selber Hauptlast. Ohne Fremdverschulden.
Selbstlast II (950)23
Ich lebe faktisch asozial.
Und das bedeutet auch: Allein in mir.
Nicht dass ich selbst getroffen hätte diese Wahl.
Das nicht, mir geht ja ab die Geltungsgier.
Man kann sich gar nicht selber wählen.
Sich allenfalls erdulden.
Gelingt das nicht, sich aus sich fort noch stehlen,
sich gängig kindisch zu verkulten.
Sich selbst und andern vorzuspielen,
man sei sein eigner Herr, sei autonom.
Um sich die Fakten aus dem Kopf wühlen:
Die, dass man unfrei ist: Gelenktes Ich-Atom.
Tobende Leeren (951)24
Die tobenden Leeren
drängen sich auf.
Befehlsdreist,
wie sie nun einmal sind.
Ich nehme geduldig
sie alle in Kauf.
Und spiele den Fan,
den Witzbold, das Kind.
Feststellung I (952)25
Dass ich um Gossen weiß
und um Verbrechen,
so wie um Würde,
Ehre und Vertrauen ..
Um solche,
die sich selbst verzechen,
und solche,
die auf sich nur schauen …
Das muss nicht wundern,
weil am Rand ich stehe,
beobachte, statt mitzumachen.
So konstatieren muss,
dass man sich Trug erflehe,
nur scheinbar noch die Sachen …
Dass man das Maß verlor,
und jede Mitte.
Sich letzten Halt abschor:
Gewissen, Geist und Sitte.
Radikale Opposition (953)26
Ich wehre mich mit allen meinen Mitteln,
mit allen Kräften ganz massiv dagegen,
zum bloßen Marktding,
zum Erlebnisjäger,
zum coolen guy und Zeitgeistträger
und sei’s auch ansatzweise nur gemacht,
bezugslos happy degradiert zu werden.
Ich werde niemals gegen mich ermitteln,
nie beugen mich den sanften Scheinglückschlägen
der allseits tobenden Erlebnisschlacht.
Ich werde stets mich geistig erden.
So niemals wie der Hauptstrom werten:
Ich werde Verse jagen in der Nacht,
mich neben blaue Katzen legen,
an allen Idealen rütteln,
die mich verdummen nur mit Klingeling:
Realitätsverweigerung verkommner Macht.
Oberflächenfern (954)27
Wer wagte es, von Selbst zu faseln,
von Freiheit, Glück und von Gelingen,
Recht, Ágape und Würde auch,
gar Ehrfurcht, Güte, Scham?
Vor mir, dem sich die Dinge klären,
existenziell zuweilen sogar tief,
der Ichsucht hört aus Werten hallen,
verkommenheitserfüllt zu brechen sie?
Ach dieses Emotionsgemurmel,
das sich als Denken missversteht,
erträumend eine therapierte Welt,
sich in den Staub zu werfen vor realer,
erlösungskorrumpiert naiv verkannt.
*Ágape griech.: Menschen-, Gottes-Liebe
Langsamer historisch-technologisch-ideologischer Prozess/Eine irrational angstbesetzte, zynische Spekulation (955)28
Die Glorifizierung und Sakralisierung
des realitätsflüchtigen Verbrauchers -
des sich sittlich selbst feiernden
und zugleich sich an sich selbst vergehenden
und vor sich selbst verbergenden,
medial narzisstisch abgerichteten,
tatsächlich dekadent-infantilen,
gewissensarm seelenlosen Ichsüchtlings -
durch die dauerethisierenden Pseudo-Eliten in z. B. den Parlamenten,
Redaktionen und Fernsehdiskussionsrunden,
markiert, scheinbar paradoxerweise,
exakt den schleichenden Übergang von formeller Volksherrschaft zu faktischer gesellschaftlicher Anomie.
Das Laisser-faire-System,
zumal gezwungen, den Wohlstand,
solange dieser noch geschaffen werden kann,
als einzig verlässliche Klammer der Gesellschaft hinzunehmen,
wird zunehmend schwächer,
willfähriger und inkonsequenter.
Und wird,
fällt das Wohlstandsniveau -
was wegen der Autodestruktivität des Kapitalismus
und des mutmaßlich global destabilisierenden Klimawandels
unvermeidlich erscheint -
dann seine eigenen Grundlagen nicht mehr aufrechterhalten können.
Der liberal-demokratische Rechtsstaat wird,
wahrscheinlich am Ende abrupt,
vollständig zerfallen.
Ersetzt dann werden - höchstwahrscheinlich - durch tyrannische Systeme,
die das neuronengebundene Schicksal der Art vollenden werden:
Schaffen werden den technologisch totalitär geformten Menschen
im Würgegriff eines metaphysisch-dynastisch
sich ausrichtenden Oligarchen- oder Partei-Adels,
der alle Macht in seinen Händen konzentrieren wird,
um die anstellig dumpfen, selbstverknechtungserpichten
und ihrer selbst entmächtigten Marionetten-Menschen,
je nach objektiven Möglichkeiten,
abstrakt-identisch in sich dahin dämmernd
verfahrensexistenziell kreatürlich zu erlösen.
Vielleicht für Jahrhunderte.
Vielleicht auch nur für kurze Zeit …
sollte eine angstbestialisch-mittellos-irrationale
Entlastungs-Anarchie
nach der Zäsur des 21. Jahrhunderts die Art
denn doch in vorindustrielle Verhältnisse zurückwerfen.
Doch kann mich das denn überhaupt berühren?
Was geht’s mich an?
Zumal schon alt und zynisch hoffnungslos?
Soll sich der Mensch doch,
wie es immer war, verlieren.
Er stelle selbst sich wieder bloß!
Nur diesmal wird es anders sein:
Der alte Mensch wird untergehen.
Der Mensch der Unvernunft, des Eigensinns,
des Frevelmuts, des Scheiterns …
der Tragik aber auch, der Ideale,
des ingeniösen Intellekts,
der Mensch des Geistes, der allein
es vermag, vor sich selber zu bestehen.
Indes der Zarte auch, der Träumer,
der Gottgeborgne und der Kernbrutale -
All diese Typen werden untergehen …
Falls sich das Heute denn
kann technisch weiterführen.
Geht es nach mir,
doch alle eine Träne wert.
Wie überhaupt dies X
auf seinem richtungslosen Floß.
Elitärer Anspruch Zeit (956)29
Will auf keinen Fall mir machen
irgend Lebenslügen vor.
Würde, tät ich’s, mich verlachen;
ja: verachten mich als Tor.
Hassen mich als Marktabklatsch,
der sich selbst das Höchste ist:
Ähnlich Würdeträger-Quatsch,
der sich als Elite misst.
Freilich muss auch dies ich sehen:
Kaum jemand besitzt die Kraft dazu.
Muss sich, Durchschnitt, schuldlos krähen
als System- und Ichlast-Nu.
Schwäche, die man muss verzeihen:
Propaganda nicht gewachsen -
lückenlos sind deren Reihen
propagierend Ichsucht-Faxen.
ZINSJA (124) (957)30
An mir liegt nichts.
Nicht mal mir selber;
bin ich doch stillelüstern,
ganz abhold der Zeit;
ein Gegner
ihrer Hirnspielbarbarei …
So letztlich nur noch
darauf aus:
Von Schmerz und
Artgenossen frei zu sein.
Mir selbst zu leben,
Welten mir zu schaffen,
die ohne Wert sind,
zumal deutungszynisch.
Auf den Musculus glutaeus maximus (958)31
Solange du mich übergangslos hochschnellen lässt
aus der Sitzhaltung,
solange du die Beckenkippung fließend-schmerzlos verhinderst,
solange du es mir ermöglichst,
beim Treppensteigen Stufe um Stufe mühelos zu nehmen
(auch zwei oder drei Stufen auf einmal,
wenn es mich kindlich-übermütig reizt),
solange ich dich spüren kann als diese mit gespreizten Fingern
widerständig gedrückte Handvoll praller Kraftwölbung,
solange werde ich es noch einigermaßen fertigbringen,
das Herannahen des Alters zu verdrängen,
diesen despotischen körperlichen Zerfall,
diesen mir so verhassten Makel der Kreatur,
dieses sich Hinschleppen vor die endgültige Vergegenständlichung
über schleichend wachsende seelisch-leibliche Schwächung,
schrat- und gnomenhafte Züge hervorkehrende Vergreisung,
geistiges Verlöschen wahrscheinlich bis zu wiederkehrender Kindlichkeit,
schließlich die endgültig entgleitende Herrschaft über diesen chronisch
sich selbst kommandierend einfordernden Moleküle-Komplex.
Im Konsumkapitalismus zumal die am meisten verachtete,
am meisten gefürchtete, weil nutzlose,
ohne Gegenleistung nur kostenträchtige,
all ihre Vergänglichkeits- und Schwäche-Gefangenschaft
schamlos vor aller Augen zerrende,
Spaß deklassierende und verrunzelt-hässliche Nichtigkeit.
Amphibolie* (959)32
Melancholie wie diese
kann nur einer machen:
Der Tod, wenn er sich
einem langsam nähert,
der unfehlbare Körperjäger.
Man sinkt in Trauer, Angst,
man weiß sich hilflos und
begreift nicht, dass man
sterben muss;
doch außerstande ist,
es nicht zu wollen.
Mit jeder Faser so
sich an dies Dasein klammert,
obwohl’s erbärmlich ist,
Farce ohne Sinngefüge,
erlösungssüchtig Triebbefehl.
*Amphibolie, griech.: Zwei-, Mehrdeutigkeit
ZINSJA (119) (960)33
Ich greife
tranceverwirrt
durch dich hindurch,
entgleite so dann
deinen Armen.
Mich selbst zu streifen
in Verließen
von Zeit
und Dürftigkeit
und Sprache.
Getragen von
diviner Indolenz,
zerfallend
in umlärmte
Leere.
In der umsonst
nach mir
zu haschen.
Entlarvungskraft/Sonett (961)34
Gewöhnlich habe ich sie scharf gesehen:
Die Lebenslügen und die Selbsttäuschungen,
von denen ich so manche nötig hatte,
mich vor mir selbst vor allem zu verstecken.
Was heißt: Sich zu belügen durch Verdrehen,
das man durch Selbsttrug hat sich abgerungen,
zeigt deutlich doch wie schnell man wird zur Ratte,
wenn man die Kraft nicht hat, sich aufzudecken.
Indes ich nach und nach auch dies begriff:
Dass man sich niemals hat auf eine Weise,
die sicher stellte, dass man zweifelsohne
sie wissen könnte, seine Daseins-Gleise:
Als absolute Wahrheit: Fakten-Schliff …
Weil sie nur deuten kann: Als Zufalls-Zone.
Getrennte Sackgassen (962)35
Ich weiß, dass ich vereinsamt untergehe.
Von Artgenossen drastisch isoliert.
Als Folge davon, dass ich geistig zu mir stehe.
Was auch heißt, dass mich nur bedingt berührt,
was da an Hauptgewinnen in die Seelen fällt:
Ein weiter Kreis von Kreaturen-Flausen
aus einer von mir abgelehnten Welt:
Mich können Wohlstandsträume nicht behausen.
Noch geb ich was auf Götter und Moral.
Was, täte ich’s, auf Selbstverrat hinaus mir liefe.
Von Täuschung wissend, davon, dass brutal
nur Ding und Ich gewinnt bei uns an Tiefe.
Mich trägt dagegen ganz allein nur das:
Gedankenfolgen aus der Sprache meißeln,
um aus der Deutungslosigkeit von Selbst und Was
mir Zweck aus andrer Leere zu erkreiseln.
Worthülse Liebe (963)36
Ständig ist von der Liebe die Rede.
Was sie auch immer,
denkt man nicht allzu präzise über sie nach,
sein mag …
Sieht man zudem davon ab,
dass sie auch als Umsatzdressurfloskel dient,
Metaphysik-Ersatz und Strategie der Ablenkung
von den eher dunklen Seiten
kapitalistischer Affektausdünnung.
Ich für mein Teil
lese an jener Tatsache zunächst nur ab,
dass wir uns immer noch den Traumrauschwelten
materiellen Überflusses
bedenkenlos und ungehemmt hingeben dürfen -
Ohne Rücksicht auf welche Fiktion von Liebe auch immer.
*Marx Horkheimer: Man liebe nicht die reale Person gegenüber, sondern das Bild, das man sich von dieser mache. Korrekt
*Niklas Luhmann: Wenn man sage „Ich liebe dich“, dann meine man damit eigentlich: „Ich habe Erwartungen an dich.“ Korrekt
*Weisheit, aus der Lebenserfahrung abgezogen: Die Liebe gerät spätestens dann in Bedrängnis, wenn der Umschlag in die Versachlichung (Wendung von Arnold Gehlen) sich vollziehen muss, d. h. die ganz profane Bewältigung des Alltags wichtiger werden muss als die Liebe. Korrekt.
*Vermutung: Die Liebe ist entweder eine Romanschrift-steller-Phantasmagorie und/oder ein bürgerliches Ideolo-gem. Korrekt
*Gottfried Benn: „Die Ehe ist eine Institution zur Lähmung des Geschlechtstriebes.“
*Der Philosoph Hegel: „Das wahrhafte Wesen der Liebe besteht darin, das Bewusstsein seiner selbst aufzugeben, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergehen und Vergessen sich erst selber zu haben und zu besitzen.“ Das kann für heute nicht mehr gelten.
*Umberto Galimberti, Philosoph, über die Liebe heute: „Was in der Liebesbeziehung gesucht wird, ist nicht der andere, sondern die Selbstverwirklichung durch den anderen. Das Du wird zum Mittel für das Ich.“ Korrekt.
Gedichte VI/1 (964)37
Gedichte, das sind auch Versuche,
fremde Psychen,
sie faszinierend durch radikale Ehrlichkeit (nicht: Rhetorik)
gleichsam zu überwältigen,
um sich, indirekt-sekundär,
auch ihrer ungespielten Aufmerksamkeit zu versichern.
Jedenfalls zuweilen sogar Gebilde,
die spezifisch geistige Macht ausüben sollen,
die es freilich,
ganz anders als politische Macht,
ausnahmslos verbietet,
sich um ihrer selbst willen personal zu korrumpieren,
zu verbiegen,
sich zu verraten oder sich gar völlig inhalts- und charakterloser Beliebigkeit zu verschreiben.
Meint Geist doch Wahrhaftigkeit
(Gedichte lügen nicht; auch nicht, wenn sie nur andeuten, verhehlen oder verzweideutigen; oder gar ins Unverständlich kippen).
Ist Geist doch Substanzbefehl
(Gedichte schreibt man nicht aus freien Stücken,
man schreibt sie, inneren Zwängen folgend,
persönlichkeitsimmanenten; unabweisbaren).
Setzt Geist doch ein sittliches Selbstverhältnis
(Gedichte sind hohe Selbstansprüche, verfehlt man sie,
schämt man sich, verachtet sich gar).
Geist geht zumal notwendig einher mit einer Distanz gegenüber sich selbst,
den Mitmenschen und sämtlichen Nicht-Ich-Illusionen,
letztlich gegenüber was auch immer,
ruhend auf einer inneren Autonomie,
vor der Realitätsverweigerung,
Entlastungs-Idealismen,
Lebenslügen, Neurosen,
Selbstglorifizierungskindereien und Illusionen,
sie seien welcher Art auch immer,
sich definitiv als solche erweisen müssen …
Ob er, der Geist, sie nun verurteile,
verschweige,
beschönige oder leugne …
Mag es doch ratsam sein,
sich sogar lebenslang vorzugaukeln,
man gaukle sich nichts vor.
Gedichte VI/2 (965)38
Gedichte sind aber auch
ein Ausdruck von drastischen Bedrückungserfahrungen,
einhergehend mit einem nicht mehr meisterbaren Ungenügen …
Das sich, nicht steuerbar,
manifestieren mag in Daseins-Angst und Verlassenheitsanwandlungen,
innerer Leere und lähmendem Nihilismus …
Und zumal einem nicht zu überwindenden Schmerz,
der, häme- und erniedrigungsfundiert,
rachsüchtig macht,
hyperempfindlich,
affektradikal und vernichtungslüstern …
Zuweilen aber auch nichts weiter als
in Zeilen gepresste
Niedrigkeit,
Erbärmlichkeit,
Desorientierung:
Existenzielles Scheitern,
Unvermögen,
Minderwertigkeitsgefühle und Haltlosigkeit.
Mühsam in Geistwerk gepresst,
in ihm allein sich straflos gewahr.
Gedichte VI/3 (966)39
Und sie, Gedichte, sind auch
Zeugnisse von abstrakter (selbstbetrügerischer)
All-Distanzierung:
Wer ein Gedicht macht,
scheint ganz allein auf sich gestellt zu sein,
scheint sich nur zu seinen inneren Bildern und Anwandlungen
und zum Material Sprache zu verhalten.
So, als ob er die anderen (die Artgenossen) habe ausblenden können, sie schaffend los sei,
sie als Gesellschaft, Du, Wir: Existenzielle Bedrückungen;
potenziell wie faktisch.
Tatsächlich scheint das nur so:
All diese anderen
- diese Gestalten, Schatten und Verhüllten am Weg -
schreiben mit am Gedicht …
Ein Gedicht ist immer eine kollektive Leistung,
es gibt kein nur-individuelles,
subjektiv geschlossenes Gedicht,
erscheine es auch als ein erstickter Schrei
von ein paar Zeilen,
entlastungsdrastisch in die Welt geworfen.
Das Gedicht ist immer auch - ist es notwendig -
nicht allein eine geistige Synthesis von individuellen Lebenserfahrungen,
Einbildungen,
Träumereien,
Unfertigkeiten,
subjektiven (auch genetischen) Determinanten und Phantasmen,
sondern auch von geschichtlichen Lagen,
sozialen und gesellschaftlichen Umständen und Beschränkungen,
interessegebundenen Interpretationen,
machtpolitischen Machenschaften
und überhaupt einer fortschreitend
Fakten schaffenden technologischen Komplexität,
die zu erfassen keinem einzelnen Menschen noch gelingen kann …
Und alle diese Gegebenheiten fallen her über den Macher des Gedichts,
knebeln,
treiben,
befehlen ihm,
ohne dass es ihm auch immer bewusst sein müsste …
Verwandeln ihn,
gewinnen geradezu multiperspektivische Formungsmächtigkeit,
das dichtende Subjekt förmlich entfesselnd,
kommandierend und zuweilen geradezu verschlingend.
Gedichte VI/4 (967)40
Aber auch Verstecke sind Gedichte,
Fluchtziele einer durch sie erfolgenden
Selbst- und Welt-Modelung:
Geistige Asyle in bedrückenden Verhältnissen.
So vermögen sie,
quasi absichtlich unbemerkt,
Realitäten zu verdrehen (gewesene wie gegenwärtige)
sind Gelegenheiten, sich Erinnerungen zu fälschen,
zu schönen oder völlig umzudeuten,
gar zu erfinden oder auch zu leugnen.
Gedichte mögen das sie schaffende Subjekt selbst
oder seine Weltgebundenheit bis zur Unkenntlichkeit verzerren,
sich und diese - weil unerträglich oder unannehmbar -
vor sich selbst zu verbergen.
Überhaupt sind wir doch ausnahmslos alle,
schaut man nüchtern,
ungerührt,
redlich und angstfrei auf die vermuteten Tatsächlichkeiten,
in jedem Augenblick in den Trugbildern,
Simplifizierungen,
Geheimnissen,
Ungreifbarkeiten und Schlingerschlieren
von Welt, Wir, Du, Wort, Ding,
Ich- und Selbst-Hermetik befangen …
definitiv dazu verurteilt,
uns selbst unweigerlich,
diffus halbbewusst delirierend,
drangsal- und sprachbelämmert ungreifbar zu verschweben.
Gedichte VI/5 (968)41
Und Gedichte sind auch Verdrängungs-Bollwerke.
Solche gegen Hinfälligkeit,
Endlichkeit und jene deprimierend objektive Bedeutungslosigkeit seiner als pausenlos
sich selbst und einer feindlichen Welt ausgesetztes kreatürliches Ich.
Ja. Das sind sie auch.
Naive Proteste zumal auch, ja:
Aufschreie gegen die doch so häufige Brutalität
und Kälte eines wurzelhaft sinnlosen Daseins,
die es sich verdrängen muss,
um nicht kommandierenden Ängsten,
Melancholie,
Selbstaufgabeimpulsen und fatalistischen Traueranwandlungen
hilflos anheimzufallen …
Gedichte als Formen des Aufbegehrens gegen Sterben und Tod?
Ja. Ohne Zweifel.
Indes zuweilen auch, ganz selten,
nur sehr undeutlich zu fassen,
auch Heimatformen jener metaphysisch-sublimen Weisen der Überwindung des Todes:
Die in der Hyle-Logos-Synthesis von Gott
(ein in der Sprache verheimatetes Neuronen-X),
sich selbst zu Geist überschreitender Materie
(sich ihrer als Geist im Gedicht bewusst)
und in dem enträtselungsbegabten rationalen Intellekt,
der in seinen Gleichungen,
seiner reinmathematisch fundamentalen Grundsehnsucht folgend nach Immersein,
sanft über sich hinaus geleitet,
die absolute Geborgenheit unserer
als teilchenmöglicher Apriori-Entelechien
bewusstlos mitformuliert.
Prägungskommandiert (969)42
Frühester Prägungen
währendem Nein verfallen,
biege ich mir
Stillen und Abstände ins Gehirn.
Abstände insbesondere von solchen,
die nicht ansatzweise begreifen,
wie es um einen steht,
wenn man primär mit Leeren umgeht,
anstatt Entfremdungsillusionen.
Die mögen einen ja in der Tat
eher tragen als die Nieten,
die in mir so sprießen,
verlangen gar manchmal Tag um Tag
zeitfremd verwaist sie
auch devot zu herzen.
Verhirnungszwangsverläufe (970)43
Nicht in Behelfsaffekte dringen!
Mit sowieso schon obsoleten Worten.
Das würde gar nichts bringen.
Indes wo soll man sich verorten?
Denn was wir leben, ist profan,
Verhirnungszwangsverläufen abgeschunden:
Sei’s Ratio-Prägung, sei’s Entlastungswahn.
Die beide tief verwunden,
sich stellvertretend selbst auslegen.
Von Psychen angetrieben,
die sich nach Zufallswirren deutend hegen.
Das müssen: Zweckfrei selbst sich aufgerieben.
ZINSJ (4)/Sonett (971)44
Was gäb’s denn da Besonderes zu sagen?
Von mir, der ich doch weiß, wie’s um uns steht;
ein alter Mann, der auf sein Grab zugeht
und keinen Grund sieht, deshalb jetzt zu klagen.
Denn schließlich hab ich schon in Kindheitstagen
gespürt, wie dieses Daseins Spur verweht;
dass blühend, es notwendig Leid sich sät,
indes ein solches ist, ganz leicht zu tragen.
Wenn ich bedenke, was die vor mir litten:
politisch; und vor allem auch sozial;
Verachtungsdruck so gut wie nie entglitten,
weil angehörig doch der großen Zahl,
die man als Dreck behandelte mit Tritten
in einem Leben auswegloser Qual.
Kleinbürger-/Angestellten-Eingeständnis (972)45
Es wäre unverschämt, mich zu beklagen.
Weil, was ich lebe, ist in Ordnung so.
Wenn auch Routine nur in einem Kleinbüro.
Soll ich das hinterfragen?
Weil es mich doch von manchem Glück aussperre?
Doch was ist Glück? Ein Kundentraum?
Sich selbst verraten in medialem Schaum?
Narzisstisches Geplärre?
Ich würde gar mich selbst verpassen?
Und wenn? Wär das nicht eher positiv?
Sind’s doch Tabelle, Anruf, Brief:
Die kleinen Pflichten, die stabil mich fassen.
Noch mal: Ich bin mit meinem Los zufrieden.
Will gar nicht mehr, als was ich habe.
Bedürfnisbüttel bis zum Grabe.
Verfall und Zeit: Dem Nichts beschieden.
Daseinsgefangenschaft I (973)46
Es ist Magie,
von der wir zehren,
von Illusionen,
die uns halten,
von Unbegriffnem,
das nicht schmerzt.
Ob wir die Kunst,
ob einen Gott
verehren,
den Eros oder
Selbstgewalten …
Es ist Materie,
die mit uns
kindlich scherzt,
die macht,
dass wir uns
selbst begehren …
Uns bis zuletzt
von Wirklichkeit
abspalten.
Affe mit hypertropher Verhirnung (974)47
Natürlich ist das alles bodenlos:
Ein Selbstzerstörungsgroßprozess.
Wir werden uns partout nicht los,
sind ontischer Abszess:
Ein Affe mit enormem Hirn,
das ruhelos sich selbst umsetzt,
bis, hofft es, sich Planeten und Gestirn
dann unterwirft zuletzt.
Indes ein Affe bleibt ein Affe,
auch wenn er auf Verfahrensformeln sinnt.
Um ihnen abgepresster Spätschlaraffe
anheim zu fallen. Wieder Kind.
ZINSJ (58) (975)48
Mein bedeutungsloses Leben,
verflochten
Materie entbundener Sinnlosigkeit,
wendet sich nunmehr
seinen letzten Jahren zu:
Ein zweckfreies Geschehen
vor Zeitfluss,
Schmerz,
Illusionslosigkeit und Verfall.
Stiller Deklassierungsprozess (976)49
Auch das ein subtiler Deklassierungsprozess:
Das technomediale Ausblenden von Phantasie,
sprachlicher Virtuosität,
geistiger Verfeinerung überhaupt,
durch die massenerzieherische Verkümmerungslockerheit:
Ramschseligkeit,
Entfesselungs-Orgien,
reklameprimitive Bebilderungen,
Entpflichtungs-Laisser-faire
und Emotions-Hully Gully,
Technokraten-Anglizismen,
Verdummungscoolness
und grammatikdefizient leerformelgespickte Polit-Rhetorik.
Unaufhaltsam reproduziert und intensiviert sich
die intellektuelle Versimpelung
eines Kollektivs von Staatsschauspielern,
Siegern und
anerkennungslüstern radebrechenden Selbstdarstellern.
Etwa so ist es (977)50
Ich bin ein wohlstandszahmer Dauerkunde,
ein News-, Büro-, Erlebnis-Tagelöhner.
Von diesem Typus nicht zu unterscheiden.
Rein zeitgeistdekadenter Daseinsclown.
Mein Leben ist banal, ist allgeregelt.
Ich soll verbrauchen und mir Freiheit träumen.
Obwohl in einer technisch effizienten Welt,
es Freiheit gar nicht geben kann.
Aus Langeweile und Vergnügungssucht
verkonsumiere ich mediale Angebote,
Persönlichkeit mir anzumaßen
als Starabklatsch, nice guy und Scheinselbstmime.
Ich bin das Hauptziel all der Schleimattacken
der Markensöldner und der Sinnkultbarden,
der Tugend- und Vernunft-Propheten,
Idiot also, ein objektiver:
Sich Mittel ohne Selbstverfügungsmacht.
Spaßverlies (978)51
Was ist mir nicht so alles fremd geblieben!
Die Macher, Stars, die Phrasenluden,
die Intellektuellen, rastlos wertgetrieben …
Der Durchschnitt, den Verspaßungswellen fluten.
Obwohl ich weiß, dass sie die Welt umtreiben,
bestimmen sie bis in die Kerne.
Weshalb sie wird auch immer bleiben
ein Schattengut in gramverstrickter Ferne.
Warum ich so geworden bin?
Genau weiß ich das nicht zu sagen.
Ich weiß nur, dass ich geh oft selbst mir hin
in kaum bewältigbaren Geistes-Plagen.
Meine Perspektive (979)52
An die Kraft der Liebe glaube ich nicht.
Nicht an die Stabilisierungsmacht
dieser Entlastungsorgien
marktgängig produzierter Verzückungsmagien.
Allenfalls an die der Selbstsucht,
der Gemeinheit und der Gier.
Und an die der progressiven
psychischen Verwahrlosung,
entfesselt von geistiger Mittellosigkeit,
dauerkommandierenden Vereinzelungszwängen
und drastischer Orientierungslosigkeit.
Antennen-Mohn (980)53
50 Jahre! 50 Stunden! 500 Hits!
Hochgejubelte, ja: hoch geschriene Sensation!
Als handle es ich um einen politischen Umsturz,
eine revolutionäre wissenschaftliche Entdeckung,
eine neue, unsere Existenz sichernde Technologie
oder irgendeine einschneidende Begebenheit
von fundamentaler allgemeiner Bedeutung.
Trunken von rekordsüchtiger Entgrenzungs-Befangenheit
verkündet der DJ im Radio die Belanglosigkeit,
dass der meist gespielte Hit der letzten 50 Jahre gesucht werde:
50 Jahre! 50 Stunden! 500 Hits!
Mitraten solle man. Gewinnen könne man zumal
eine Reise nach Antwerpen (der 1. Preis).
Dort könne man sich mit prominenten Kennern
der Szene treffen, abends dann auch backstage,
dürfe mit ihnen speisen, tanzen, abfeiern …
Man stelle sich nur einmal vor, wie einen das happy mache,
mit diesen Leuten zusammen sein zu dürfen.
Das sei wirklich Kult, werde ein einmaliges,
unvergessliches Erlebnis für alle die werden,
denen das Glück zuteilwerden wird,
ihren sex, drugs und rock’n roll predigenden Götzen
gleichsam daseinsunmittelbar huldigen zu dürfen…
50 Jahre! 50 Stunden! 500 Hits!
50 Jahre! 50 Stunden! 500 Hits!
Der Mann, saumäßig gut gelaunt, wie er es nennt,
überschlägt sich förmlich in immer weiter
sich steigernder Reklame-Bombastik:
Affengeil, abartig, super (supi), klasse, megacool,
ziellüstern sei das alles, noch nie da gewesen.
Die Anrufe summierten sich inzwischen auf
mehr als 30 000 und kein Ende sei abzusehen.
Manche, mitgerissen von höchster Begeisterung,
sind ausschnittsweise zu hören.
Und tatsächlich ist die quasireligiöse Ergriffenheit
der Anrufer*innen offenkundig: Manche weinen,
manche kichern albern, manche sind emotional
tief ergriffen, stottern hysterisch vor sich hin,
radebrechen von einem einmaligen Glück,
das ihnen widerführe, sollten sie
zu den Auserwählten gehören, die gewinnen.
Werde bei ihnen doch der eine oder andre Hit
sentimentale Erinnerungen an Jugendseligkeiten wecken:
Die erste Liebe, Cliquengeborgenheit,
Das-waren-noch-Zeiten-Phantasmagorien,
an längst aus den Augen Verlorene oder gar
bereits Verstorbene, an die man schon lange
nicht mehr gedacht habe …
Lebensgeschichtliches Bewusstsein, daran geknüpft,
wann welcher Hit von wem gesungen auf den Markt kam,
welche Rolle er dann zufällig spielte,
weil er besonders gut gefiel oder begeisterte,
vielleicht sogar
an die eigene Lebensgeschichte geknüpft war,
vielleicht an das eine oder andere
Erlebnis oder Geheimnis …
Eine Aura der Außeralltäglichkeit jedenfalls tut sich da
in manchen Verlautbarungen der Zuhörer*innen auf,
eine Art Gnadenbewusstsein schießt hoch
angesichts der Aussicht,
mit jenen Promis der Schlager-
und Pop-Szene persönlich (live!) zusammen sein
zu dürfen,
sozusagen trivialmedial verklärten Quasi-Übermenschen,
Seelen-Führern und Entselbstungs-Gurus, um vielleicht
eine Art Wesensverschmelzung mit ihnen zu erleben,
sich selbst und sein profanes Leben vergessend im Sog
eines medial provozierten orgiastischen Jahrmarkts-Messianismus …
Eben typische Konsumdiktatur-Hyperbolik*:
50 Jahre! 50 Stunden! 500 Hits!
Maßlose Übertreibungen. Marktschreier-Superlative.
Verbraucher-Dionysien**.
Erlösungsträchtig noch die Nebensächlichkeiten im Modus des Bedeutungslosen.
Das trickreich-kleingaunerhafte Vortäuschen von unüberbietbarer Wichtigkeit noch einer Limonadenmarke.
Das Daueraufpeitschen der primitivsten Emotionsschichten:
Auftrags-Infantilismus.
Die Provokation inszenierter Verlautbarungsberückung.
Monaden-Verzückungen
zeitgeistdrastisch gesteuerten Selbstwert-
und Anerkennungs-Onanierens.
Die Existenz überhaupt nur noch als kreatürliches Entlastungs-Nirvana warenimmanenter Vergessensgüte.
Ekstatischer*** Irrationalismus.
Systemnotwendige Anpassungsleistungen und Seelenausrichtungen:
Totalitarismus der Intellekt-Ananke****.
Spätzeitlich aufgewühlt.
50 Jahre! 50 Stunden! 500 Hits!
*Hyperbolik, hier: Maßlose Übertreibung
**Dionysien, hier: Berauschungen
***Ekstase: Zustand des Außersichgeratenseins
****Ananke, hier: Notwendigkeit
Das Beste II (981)54
Von allen andern frei, sie los zu sein
- ich sage mir das immer wieder -,
das ist mit Abstand doch das Beste.
So jedenfalls ist es für mich.
Ich sitze dann für mich allein
und zähle meiner Einsamkeiten Güter.
Nicht meiner Daseinsträume tote Reste
in meinem radikal mir längst entlarvten Ich.
Wie kommt’s indes, dass jene Güter seien?
Nun es ist leicht, das einzusehen:
Sie hindern, Lebenslügen mich zu weihen,
mich zu verlieren diesem Gramgeschehen.
Revoltierende Verwahrlosungsverzweiflung (982)55
Ich habe die Vergeblichkeit geköpft
im siebten Hinterhalt des Lethe-Flusses.
Aus diesem eine Handvoll Stoff geschöpft
als Glücksvolumen meines Überdrusses.
Dass sie gewähre eine Spanne Wahns,
denn auch die Hoffnung habe ich vernichtet,
verscharrt im Resttrug eines Traumweltspans.
Zumal die Phrasenheere in mir übel zugerichtet.
Für ein paar Augenblicke sei mir bloße Hyle,
die fleischwärts ihre Zügellosigkeiten treibt,
in Taubheit trommelt Normen und Kalküle
und noch vor zarten Lügen standhaft bleibt:
Ich will mich deiner Leibmagie versenken,
in ihren Räuschen mir zusammenrauben
die Lüste, die vom Ist ablenken.
So tief wie Machtverweigerung und Friedenstauben.
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